Sunday, December 18, 2022
Einleitung: Ein Brunnen?!
Die Worte “Nur Verrückte!” rutschen mir dieser Tage recht häufig heraus, potentiell mehrmals täglich. Immer wieder höre ich Nachrichten über Leute, die etwas getan haben, was mir im Leben nicht eingefallen wäre, oder zumindest mit Konsequenzen, die man sich nicht ausdenken könnte. Vor einer Weile habe ich in einer Schlagzeile gelesen, dass eine Frau bei dem Versuch, ein Selfie zu machen, in einen Brunnen gefallen ist. Einen Brunnen! Respekt, kann ich da nur sagen; das habe ich bisher nicht geschafft.
Vielleicht kommt euch das Beispiel mit dem Brunnen harmlos vor. Alternativ könnte ich mit Geschichten aufwarten, bei denen Menschen eine typische Outdoor-Aktivität in ihrer Wohnung betrieben haben (z.B. Baseball im Wohnzimmer; ihr könnt euch denken, was aus dem Großbildfernseher geworden ist) oder sich Herausforderungen hingeben, die sich bei klarem Verstand als abwegig herausstellen sollten, z.B. ein Kopfstoß-Duell mit einem ausgewachsenen Bullen - üblicherweise mit dem Resultat, dass das Tier die deutlich bessere Figur abgibt.
Der Ausruf “Nur Verrückte!” ist gewissermaßen die Kurzform für “Wir sind nur noch von Verrückten umgeben. Wie kann man nur auf so etwas kommen!” Dabei ist das Wort “verrückt” in der Ursprungsform des obigen Zitats eigentlich wohlwollend gemeint, also nicht im Sinne einer dauerhaften medizinischen Beeinträchtigung, sondern eher mit der Bedeutung “etwas schräg”. Wir reden hier von Menschen, die zunächst einmal relativ vernünftig erscheinen, aber dann eine alberne Aktion tätigen, weil sie diese spontan für eine gute Idee halten.
Allerdings, und das ist der springende Punkt, scheinen die Verrücktheiten in unserem Leben die Oberhand zu gewinnen. Sind die Menschen, die uns umgeben, tatsächlich immer mehr gaga? Kann es sein, dass das, was man umgangssprachlich als “gesunden Menschenverstand” bezeichnet, wirklich immer weiter schwindet? Vermutlich gehöre ich einer Minderheit an, wenn ich so frage, denn ein beträchtlicher Personenkreis empfindet es anscheinend als unbedenklich, sich vor eine laufende Kamera zu stellen und sich ohne ersichtlichen Grund einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf zu schütten.
Man könnte argumentieren, dass es dergleichen schon immer gegeben hat, und dass derartige Episoden vor 50 Jahren einfach deswegen nicht so stark wahrgenommen wurden, weil das Internet damals noch nicht das war, was es heute ist. Vielleicht liegt es ja nur an den sozialen Medien, dass sich solche Geschichten immer mehr in den Vordergrund drängen. Und dennoch macht mir diese Entwicklung Angst. Muss ich damit rechnen, dass mir in 10 Jahren eine unkreative oder anderweitig abnormale Persönlichkeit bescheinigt wird, weil ich noch nie vom Dach eines Hauses in einen Swimming Pool gesprungen bin?
Die zuvor erwähnten Beispiele haben eine Sache gemeinsam, die (noch gewissermaßen positiv) hervorzuheben ist: Außer den Verrückten selbst kommt niemand zu Schaden. Das ist nicht selbstverständlich und, wie ich befürchte, auch nicht mehr die Regel. Von den zahllosen grotesken Stunts, welche in die besagte Kategorie fallen, haben die meisten das Potential, andere Personen schwer in Mitleidenschaft zu ziehen. Aber wen kümmert’s, wenn man dafür mehr Likes im sozialen Netzwerk seiner Wahl bekommt?
Neuerdings habe ich meinen Sprachgebrauch in diesem Kontext etwas ausgeweitet. Inzwischen wechsle ich zwischen den Exklamationen “Nur Verrückte!” und “Nur Bekloppte!”, wobei ich in extremen Fällen auch noch unverblümt “Nur Idioten!” sage. Hierbei sind die beiden letzteren für Menschen reserviert, deren Handlungen ziemlich offenkundig mindestens eine Unannehmlichkeit und häufig eine ernsthafte Gefährdung für andere darstellen.
Zu allem Überfluss ist es nun so, dass die begangenen Verrücktheiten ungefähr in dem gleichen Maß, in dem sie für die Mitmenschen mehr und mehr eine Gefahr oder wenigstens eine Belastung darstellen, unkreativer und ordinärer werden. Kurz gesagt, sie sind nicht mehr interessant, sondern nur noch dämlich. Wisst ihr, ich glaube aus vollem Herzen an die Verdummung der Menschen. Ich weiß zwar nicht, wohin sie uns führt, aber ich gehe davon aus, dass Menschen, die bei ihrer Selbstdarstellung in einen Brunnen stürzen, recht bald unsere kleinste Sorge sein werden.