Saturday, April 1, 2023
In der Shopping-Hölle
Vor ein paar Tagen, als ich auf dem Heimweg vom Supermarkt war, führte ein junger Mann vor mir ein Fahrmanöver durch, das aus gutem Grund verboten war. Er passierte eine Verkehrsinsel auf der falschen Seite, um an einer Stelle auf eine stark befahrene vierspurige Hauptstraße zuzusteuern, an der seitlicher Verkehr überhaupt nicht vorgesehen war. Neben anderen Dingen führte dies dazu, dass ich - genau wie der Zebrastreifen, auf dem ich mich befand - für andere Verkehrsteilnehmer nicht gut sichtbar war. Wenn es in dem Moment noch einen zweiten, ähnlich kreativen Fahrer gegeben hätte, wäre ich jetzt ein bunter Fleck auf dem Asphalt.
Dass ich heute wieder einen Artikel veröffentlichen kann, stand also ein paar Sekunden lang auf der Kippe. Das Leben in der Großstadt ist ein Leben am Abgrund - in vielerlei Hinsicht. Nun ist es so, dass ich in der Vergangenheit schon mehrfach über bekloppte Autofahrer geschrieben habe. Heute soll es jedoch um etwas anderes gehen, weshalb ich mir den Luxus einer völlig gekünstelten Überleitung erlaube. Das Thema des vorliegenden Artikels lautet: Einkaufen.
Supermärkte in Großstädten sind schon eine putzige Sache. Sie stellen mit so hoher Frequenz neue Arbeitskräfte ein, dass praktisch nie der Status von echter Professionalität erreicht wird. Wann immer ich beispielsweise meine bevorzugte REWE-Filiale verlasse, kann ich davon ausgehen, dass Anzahl und Art der Artikel auf dem Kassenbon wenig mit denen in meinem Einkaufswagen gemeinsam haben - und das, obwohl der Scanner den Kassierern den Hauptteil der Arbeit abnimmt.
Dabei gibt es verschiedene Typen von Kassierern. Manchen scheint es egal zu sein, welche Artikel sie abrechnen, weil sie im Grunde nur ihre Stunden absitzen wollen. Andere geben ihr Bestes, sind aber mit der modernen Technik heillos überfordert. Das Ergebnis ist in beiden Fällen das gleiche, nämlich dass Übereinstimmungen zwischen Waren und Warenliste eher zufälliger Natur sind. Das alles kann eine amüsante Erfahrung sein; im wesentlichen hängt es davon ab, ob die Leutchen sich zu Gunsten oder Ungunsten der Kunden vertun.
An dem besagten Tag wurde ich mit einem Angestellten konfrontiert, der so aussah, als hatte er sich vor langer Zeit einmal hohe intellektuelle Ziele gesteckt, bevor ihn die Realität eingeholt hat. Vermutlich wollte er an der hiesigen Uni Kernphysik studieren, hatte dann allerdings weder den Studenteneingang noch den Hausmeistereingang gefunden und schließlich beschlossen, den Plan B auf seiner Karrieretafel zu verfolgen.
Zu meinem Einkauf gehörte eine Tüte voller Backwaren. Selbige war voll, aber immerhin durchsichtig (an manchen Tagen bietet der Supermarkt ausnahmslos undurchsichtige Tüten an, was das Personal vor besondere Herausforderungen stellt.) Ich erwartete eine minutenlange Unterbrechung der Verkaufsabläufe an meiner Kasse. Doch der Kassierer war zu abgebrüht, um sich anmerken zu lassen, dass er der Problematik nicht gewachsen war. Mit einer Miene, als hätte er die Sache ohne Wenn und Aber im Griff, schob er das ganze Paket auf einmal durch und drückte eine x-beliebige Taste in seinem Brötchenauswahlmenü dreimal. (Er erwischt übrigens eine der wenigen Sorten, von denen ich gar kein Exemplar im Wagen hatte.)
Die Konsequenz davon war, dass ich die Filiale als glücklicher Mann verließ. Ich war um ein paar Euro reicher und wusste zu dem Zeitpunkt ja noch nicht, dass mich ein Autofahrer als Ziel zur Vernichtung auserkoren hatte. Als ich zu Hause ankam, war die Freude über das gesparte Geld bereits verflogen. Die Erleichterung angesichts meines Überlebens hielt ebenfalls nicht lange, denn ich hatte noch einen zweiten Ausflug geplant.
Ich wollte am Nachmittag “shoppen” gehen - in dem Sinne, wie das Wort mehrheitlich verwendet wird (die meisten Leute verbinden damit den Erwerb von modischen Klamotten oder Accessoires). Ich benötigte zwar keine Gucci-Tasche, aber immerhin neue Jeans. Allgemein bin ich nicht jemand, für den Shopping ein zentraler Lebensinhalt ist, doch in diesem Fall wollte ich zur Abwechslung wieder ein Kaufhaus von innen sehen.
Bevor ich mich auf die Suche nach tragbaren Hosen begab, stand zuerst Unterhaltungselektronik auf meinem Programm. Dabei wähle ich normalerweise zwischen Saturn-, MediaMarkt- und Conrad-Filialen. Bei Saturn sind Auswahl und Preise ok, nur die Qualität der Kundenberatung ist unterirdisch. Zu MediaMarkt komme ich selten, was daran liegt, dass die Filiale für mich geographisch ungünstig liegt. Conrad ist etwas teurer, andererseits erhält man nach meiner Erfahrung eine exzellente fachliche Beratung. Leider hatte Conrad kürzlich dicht gemacht, deshalb lief es auf Saturn hinaus.
Ich gehe gern in den Saturn, solange ich weiß, was ich will und wo ich es finde. Wenn man wirklich Unterstützung braucht, ist das Personal wie gesagt keine große Hilfe. Im letzten Jahr haben sie mich mal eine Dreiviertelstunde am Info-Point stehen lassen, ohne dass ich auch nur dazu kam, eine Frage an einen Mitarbeiter zu richten. Kurz gesagt, wenn ich dort nicht aus eigener Kraft fündig werde, werde ich es gar nicht.
Leider hat Saturn es sich angewöhnt, seine Waren regelmäßig umzuräumen, und in letzter Zeit übertreiben sie es wirklich. Konkret scheint eine Spielwarenabteilung den Rest der Filiale verschlingen zu wollen. Das finde ich verstörend; wenn ich Computer-Zubehör oder DVDs kaufen möchte, brauche ich eigentlich keine Lego-Steine. Da meine Suche nicht von Erfolg gekrönt war, zog ich unverrichteter Dinge von dannen.
Als nächstes suchte ich, das Jeans-Anliegen im Kopf, Peek & Cloppenburg auf - nicht so sehr, weil ich ein Fan der Kette bin, sondern einfach weil die Filiale in der Nähe lag. Und erneut lief meine Suche ins Leere. Es ist eine besondere (und möglicherweise recht neue) Eigentümlichkeit von Modegeschäften, dass sie ihre Waren nicht mehr nach Art, sondern nach Marke sortieren. Das macht es schlichten Gemütern wie mir schwer, systematisch und erfolgreich zu shoppen.
Ich muss davon ausgehen, dass ich nicht zu der Zielgruppe von P&C gehöre. Denn wenn ich Kleidung einkaufe, dann typischerweise mit der Herangehensweise “Ich brauche eine Hose” (bzw. eine Jacke, ein Hemd, oder was auch immer) und nicht etwa “Ich brauche etwas von Hugo Boss” (oder Ralph Lauren, Calvin Klein, usw.). Als ich das Geschäft verließ, tat ich das in der Überzeugung, es handle sich um die unattraktivste Modefiliale, in die ich in meinem Leben je einen Fuß setzen würde.
Diese Ansicht musste ich sofort revidieren, weil ich nämlich gleich im Anschluss den H&M auf der anderen Straßenseite betrat. Dort galten hinsichtlich der Inneneinrichtung wohl vergleichbare Prinzipien, allerdings hatte der Innenausstatter zusätzlich an jeder freien Stelle Spiegel platziert. In Sachen Hässlichkeit setzt H&M damit völlig neue Maßstäbe. Infolge der stark beeinträchtigten räumlichen Wahrnehmung konnte ich zu keinem Zeitpunkt mit Sicherheit sagen, ob ich 3 oder 30 Meter vom Ausgang entfernt war. Es fühlte sich an wie ein gigantisches Gruselkabinett. Nach nicht einmal 90 Sekunden war ich, innerlich schreiend, wieder draußen.
Schließlich entschied ich mich, es bei Karstadt zu versuchen. Dieser Tage muss man immer damit rechnen, dass es die letzte Gelegenheit dafür sein wird, doch meine Recherche ergab, dass es sich um eine Filiale handelte, die vorerst überleben würde. Der Bau, den ich anvisierte, hatte eine geradezu groteske Struktur. Laut Google Maps war der Grundriss des Warenhauses ein höchst unregelmäßiges Viereck. Das Erdgeschoss, in dem man Kleinkram aller Art (von Armbanduhren und Schmuck bis hin zu verbilligten Socken) erwerben konnte, war so schlecht organisiert, dass es genausogut hätte vierzehneckig sein können. Sowohl an den Kassen als auch an den Fahrstühlen bildeten sich Schlangen, die allen anderen Besuchern im Weg waren. Außer den üblichen Stockwerken hatte es noch eine Art Zwischenetage, welche die Unübersichtlichkeit vollendete.
Sobald ich jedoch die Abteilung für Herrenbekleidung betrat, war ich im siebten Himmel. Alles war schön geordnet und auf Anhieb zugänglich. Das Jeans-Sortiment ergoss sich mir mehr oder weniger auf einen einzigen Blick, anstatt über ein Dutzend Ecken verteilt zu sein. Abgesehen von den leicht überkommunikativen Verkäuferinnen, die mich mit ihren Weisheiten beglückten (”Die einzelnen Hosen können unterschiedlich geschnitten sein” - danke, das war mir auch von allein klar), war der Einkauf ein erstaunlich angenehmes Erlebnis.
Das heißt, bis ich wieder zu Hause war. Im Rausch der Glückshormone hatte ich mir tatsächlich noch ein paar Socken im Erdgeschoss gegönnt. Als ich im trauten Heim ankam, fand ich in der Einkaufstüte zu meiner großen Überraschung einen Gutschein für Strumpfwaren (der nur am gleichen Tag gültig war). Die Dame an der Kasse hatte mir wohl eine heimliche Freude machen wollen. Das war ihr außerordentlich gut gelungen, denn die Freude war so heimlich, dass sie überhaupt nicht angekommen war. Hätte die Verkäuferin mir gesagt, dass sie in meiner Tüte einen Gutschein versteckt, hätte ich ihn umgehend einlösen können. So hingegen landete er im Papierkorb.
Man sagt, die Kaufhäuser würden durch den Online-Handel zugrunde gehen. An dieser Behauptung mag etwas dran sein; ich gestehe freimütig, dass ich hin und wieder meinen Teil dazu beitrage. Andererseits haben die Filialen es selbst in der Hand, ihren Kunden einen schöne Shopping-Erfahrung zu bieten. Wenn sie das nicht mehr schaffen, verdienen sie es, aus unserem Leben zu verschwinden.