Saturday, September 2, 2023
Das Zeitalter der Heuchelei (Teil 1)
Zu Pfingsten war ich wieder langstreckig mit der Deutschen Bahn unterwegs. Nun, es dürfte kein Geheimnis sein, dass ich die Bahn nicht mag, aber in dem konkreten Fall war ich von dem Irrsinn gar nicht selbst betroffen; meine eigene Fahrt war relativ stressfrei. Stattdessen fand der Zirkus am Hamburger Hauptbahnhof auf dem Nachbargleis statt, wo ein Regionalzug zur Abfahrt nach Rostock wartete. Anscheinend gibt es auf dieser Strecke nicht genügend Züge, denn die Länge des Zuges stand in keinem Verhältnis zum Fahrgastaufkommen.
Als ich ungefähr eine Viertelstunde vor der planmäßigen Abfahrtzeit eintraf, war der Zug “voll”, vorsichtig ausgedrückt. Danach kamen pro Minute ungefähr 10-20 weitere Leute hinzu (manchmal auch 50), die ebenfalls mitfahren wollten. Die meisten hatten abartig viel Gepäck bei sich, als würden sie einen Ausflug ins Trainingslager des Sommerskiverein Buxtehude machen. Einige von ihnen hatten ein Einsehen, doch der Rest quetschte sich wirklich irgendwie rein. Am Ende sah der Zug aus wie eine Legebatterie auf Rädern.
Die ganze Sache war nicht wirklich schön anzusehen, und seitdem bin ich noch mehrmals Zeuge ähnlicher Episoden geworden. Was mich in dem Kontext allerdings zusätzlich stört, ist der Umstand, dass sich etwa zur gleichen Zeit diverse Politiker vor laufenden Kameras präsentiert haben, um für öffentliche Verkehrsmittel zu werben und die Einführung des Deutschland-Tickets zu loben. Dessen Verkaufszahlen sind wohl nach oben gegangen (wenngleich nicht so stark wie erhofft), und offenbar hat sich keine von den Polit-Nasen über das Gesamtbild - konkret die Kapazitäten der Verkehrsunternehmen - ernsthaft Gedanken gemacht.
Was wir hier haben, ist Heuchelei in Reinform. Ich gehe fest davon aus, dass die besagten Personen bei ihren Dienstreisen quer durch Deutschland entweder grundsätzlich nur fliegen oder alternativ die elitären Fahrdienste in Anspruch nehmen, die dem Normalbürger nicht zur Verfügung stehen. Kurz gesagt, sie preisen einen Dienst an, den sie selbst nie ausprobiert haben, und der nur wenig taugt, einfach weil es gut klingt und von ihnen erwartet wird.
Was das angeht, sind die Menschen Spitze (und zwar nicht nur Politiker, auch wenn ich über sie am liebsten herziehe). Ein anderes Beispiel: Vor nicht allzu langer Zeit gab es einen bedauerlichen Todesfall nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung im Amateur-Fußball. Ich weiß nicht mehr, wer sich den Satz “Der Fußball hat kein Gewaltproblem” zuerst rausgequält hat; er wurde jedenfalls mehrfach von DSB-Funktionären und sonstigen Persönlichkeiten von öffentlichem Interesse aufgegriffen.
In meinen Augen hat jeder, der dieses Statement öffentlich abgibt, ein Rad ab. Der Fußball - kein Gewaltproblem? Natürlich hat er eins. Auch hier ist es wahrscheinlich, dass sich die Leute seit Jahren nicht mehr bei einem Spiel der Kreisklasse auf die Tribüne verirrt haben. Oder noch besser: auf den Platz. Nehmen wir an, sie würden dort als Rechtsaußen aufgestellt, geraten mit einem Gegner aneinander und werden von ihm anschließend mit den Fäusten voran angegangen. Ich wette, sie wünschen sich Personenschutz herbei. Aber in ihrer Blase existieren derartige Vorfälle halt nicht.
Der Gedanke für mein heutiges Blog-Thema (Achtung: erneuter Themawechsel) kam mir beim diesjährigen Eurovision Song Contest. Ich habe das Spektakel früher gern live verfolgt, in den letzten Jahren nicht mehr so sehr. Im aktuellen Jahr gab es den folgenden medialen Zwischenfall: Der ukrainische Präsident Selenskyj wollte ein paar (Gruß-)Worte an die Menschen richten; es wurde ihm jedoch verboten, “weil der ESC unpolitisch ist”. Huch? Glaubt das wirklich jemand?
In den letzten 20 Jahren - vielleicht auch schon länger - war der ESC immer so eine Art Geographie-Crashkurs, in dem man gelernt hat, welche europäischen Staaten direkt aneinandergrenzen. Nationen gaben ihren unmittelbaren Nachbarn die Punkte, manchmal auch Malta oder Zypern, aber jedenfalls nicht Deutschland; das war immer so eine implizite Vereinbarung. Die Musik war üblicherweise nur Beiwerk. (Meine Favoriten waren übrigens jahrelang Nationen wie Dänemark oder Schweden. Vielleicht bin ich ja geschmacklich nicht mehr ganz auf der Höhe.)
Bitte versteht mich nicht falsch; ich bin tatsächlich der Meinung, dass Deutschland seine regelmäßigen hinteren Plätze verdient hat. Abgesehen davon, dass wir kaum politische Freunde in Europa haben, sind unsere musikalischen Beiträge auch wirklich immer wieder grottenschlecht. Während andere Nationen echte Künstler zum ESC entsenden, schicken wir ein paar talentbefreite Würstchen, als wäre es nur eine weitere Auswanderer-Show im TV. Vor der Veranstaltung wird die Sache schöngeredet (ebenfalls ein Thema, über das ich durchgehend schreiben könnte), hinterher tut man erstaunt.
Zurück zum politischen Anteil der Veranstaltung. Würde jemand ernsthaft behaupten wollen, dass die Ukraine 2022 auch dann gewonnen hätte, wenn sie nicht ein paar Monate zuvor von Russland angegriffen worden wäre? Sollen wir glauben, die Russen wäre aus dem Song Contest gestrichen worden, weil sie ihre Rundfunkbeiträge nicht bezahlt hätten? Die Organisatoren wollten einfach vermeiden, dass durch Selenskyjs Ansprache mehr Öl ins europäische Feuer gegossen wird.
In der heutigen Zeit sind die Menschen erschreckend gut darin, etwas zu sagen, was die anderen gern hören wollen, aber in Wirklichkeit etwas Gegenteiliges zu meinen. Das betrifft natürlich besonders Personen des öffentlichen Lebens, ist jedoch nicht auf solche beschränkt. Wir alle stehen naturgemäß lieber gut als schlecht vor unseren Mitmenschen da. Und wenn eine Ansicht populär ist, vermitteln wir gern den Anschein, dahinter zu stehen, auch wenn das eigentlich gar nicht der Fall ist.
(Fortsetzung folgt)