Friday, July 5, 2024

Das Wunder der Technik

Es ist so viel los da draußen! In den USA wird demnächst ein Präsident gewählt, und zwar nach jetzigem Stand entweder ein rabiater republikanischer Rüpel oder ein Tattergreis, dessen Redefluss längere Aussetzer hat als der Versuch eines Zugbegleiters der Deutschen Bahn, über Lautsprecher Fahrplanauskünfte zu geben. In Frankreich geht die Wahl nach rechts, in Großbritannien nach links, und das juristische Tauziehen um Julian Assange hat endlich ein gutes Ende genommen. Aber das einzige Weltthema, für das man sich hierzulande augenscheinlich wirklich interessiert, ist die sexuelle Orientierung von Bill Kaulitz.

In den deutschen Medien liegen die Prioritäten regelmäßig schief. Vor zwei Wochen starb Donald Sutherland, über mehrere Generationen hinweg einer der herausragendsten Schauspieler der Welt. Bei uns gab es dazu einige kurze Artikel, doch schon am nächsten Tag war das nicht mehr so interessant, und die Journalisten schrieben lieber wieder - wie sie es seit Monaten tun - über die Krankheit von Horst Hoenig und wie seine Frau damit umgeht. Ich nehme an, falls sich sein Gesundheitszustand überraschend bessern sollte, wird er umgehend eine Einladung ins nächste Dschungelcamp bekommen.

Nähern wir uns mal ganz sacht dem Thema Sport an. Es ist vielleicht etwas untergegangen, aber in wenigen Wochen finden in Paris Olympische Sommerspiele statt. Vor kurzem liefen Deutsche Meisterschaften (mit Chance auf Olympia-Qualifikation) im Turnen und in der Leichtathletik, von den unglaublich vielen sonstigen Sportarten mal abgesehen. Habt ihr davon etwas mitbekommen? Im Fernsehen wurde sogar an den fußballfreien Tagen lieber Julian Nagelsmann oder Rudi Völler gezeigt, und selbst eine Lina Kimmich hat gefühlt mehr Bildschirmzeit bekommen als die gesamte deutsche Olympia-Auswahl.

Im Zentrum des Geschehens steht dieser Tage natürlich immer die eigentliche Fußball-EM, d.h. in den Spielen ohne türkische Beteiligung das Ergebnis. Allerdings sind die Übertragungen eine deprimierende Erfahrung, und zwar hauptsächlich wegen der permanent eingesetzten Technik. Wenn ich während der Vorrunde mal geistesabwesend den Fernseher eingeschaltet habe, lief in der Regel nicht das Spiel, sondern der Unparteiische machte mit seinen Händen die berühmte Geste, und dann wurde minutenlang Videomaterial ausgewertet, um zu überprüfen, ob die Frisur von Cristiano Ronaldo ein paar Millimeter im Abseits stand.

Sobald ein möglicherweise abgefälschter Torschuss oder vielleicht ein Handspiel zur Diskussion steht, wird ein sogenanntes “Ball-EKG” aufgefahren. Ich glaube, es hackt. Mit den filigransten Messwerkzeugen, welche die moderne Technik bietet (und die nicht gerade in einem Teilchenbeschleuniger benötigt werden), wird geprüft, ob sich die Flugbahn des Balles um den Bruchteil eines Grades geändert hat - also ungefähr das, was passiert, wenn man in einen Schwarm Mücken schießt. Vermutlich glauben die Verantwortlichen wirklich, dass dadurch korrektere Spielentscheidungen getroffen werden, nur Spaß macht das Zuschauen nicht mehr.

Wenn früher ein Fußballmatch regelmäßig unterbrochen wurde und kein Spielfluss aufkam, haben die Kommentatoren das Ganze fachmännisch als “zerfahren” bezeichnet. Inzwischen ist das ein zelebrierter Zustand. Warum ist das so? In der Vergangenheit wurden zugegebenermaßen öfter mal Schiedsrichter-Fehlentscheidungen getroffen, aber das gehörte irgendwie dazu. Stolperte zum Beispiel ein Thomas Helmer vor ziemlich genau 30 Jahren den Ball am Kasten vorbei, wurde trotzdem ein Treffer notiert. Das ist auch in Ordnung, denn er kickte für Bayern München, und da gehört es sich so, dass man auf Wunsch ein Tor zuerkannt bekommt, ob man nun eins erzielt hat oder nicht.

Zurück zur laufenden EM. Nicht nur auf dem Platz, auch im Drumherum ist die Technik omnipräsent. Die Deutsche Bahn beispielsweise besitzt gigantische Maschinen, genannt “Züge”, um die Fans zu Tausenden zu den Spielen und wieder nach Hause zu bringen. Das funktioniert in der Praxis nicht so gut wie in der Theorie, und in Gelsenkirchen wohl überhaupt nicht. Doch letztendlich ist es ja bekanntlich der Gedanke, der zählt.

Und dann wäre da noch die Telekom. Vor einiger Zeit hat sie für sich die Möglichkeit entdeckt, große Datenmengen und konkret Spielübertragungen durch den Äther zu schicken (Stichwort: Magenta TV). Leider hat das System regelmäßig eine Panne, insbesondere wenn Zuschauer die Spiele auf diesem Weg wirklich sehen möchten. Nichtsdestoweniger muss man anerkennen, dass es sich um beeindruckende Technologie handelt. Wenn man die dafür aufgewandte Energie in andere wissenschaftliche Projekte gesteckt hätte, könnte man Krebs, Corona, Vogelgrippe und den Geisteszustand von Björn Höcke bestimmt inzwischen geheilt haben.

Wirklich schade ist bei der ganzen Sache, dass der Fußball ein paar von den jüngsten Errungenschaften gar nicht nötig hat. Natürlich beziehe ich mich hierbei nicht grundsätzlich auf die Präsenz der Medien oder das Wirken der Beförderungsunternehmen. Aber ein Ball-EKG? Ein solches bereichert weder den Sport noch die Zuschauererfahrung. In meinen Augen hatte das Spiel einen größeren Reiz, mehr “Zauber”, als noch nicht jede fragwürdige Szene unter dem Elektronenmikroskop auseinandergenommen wurde. Weniger ist manchmal mehr.