Thursday, May 1, 2025

In eigener Sache

Ich habe beschlossen, ein paar Zeilen über Schach zu schreiben. Ich bin bzw. war selbst Schachspieler und verfolge ab und zu noch die Ereignisse in der Schachwelt. Gesamtheitlich hat Schach für mich seinen Reiz verloren. Das königliche Spiel wird inzwischen zu stark von den Errungenschaften der Computer dominiert. Zwar ist es schon seit langer Zeit - im Prinzip seit Jahrhunderten - so, dass man eine beträchtliche Menge Theorie des Spiels lernen musste (früher aus Büchern), um auf einem hohen Level mithalten zu können. Aber das Ausmaß der Entwicklung hat mich dazu gebracht, dieses Hobby effektiv aufzugeben.

Wenn heute zwei Spitzenspieler gegeneinander antreten, sieht das häufig so aus, dass die beiden 20 oder 30 fehlerfreie Züge ausführen, die sie vorher auswendig gelernt haben, danach einander zu ihrem guten Gedächtnis gratulieren und sich auf Unentschieden einigen. Auf etwas niedrigerem Niveau kann das ebenso passieren, doch der wahrscheinlichere Ausgang lautet, dass nur einer der beiden die perfekten Züge kennt, so dass die Partie praktisch dadurch entschieden wird, wer am Vorabend die besseren Computeranalysen aufgeschnappt hat. Das alles ist nichts mehr für mich.

In Film und Fernsehen werden Schachspieler oft als eine elitäre Minderheit dargestellt, nicht selten als Freaks. Die Sätze, die sie beim Spielen sagen, machen für Normalsterbliche keinen Sinn, für echte Schachspieler allerdings auch bloß nicht (ebenso wie die Stellungen auf den Brettern und die angesagten Züge). Im Grunde kann man davon ausgehen, dass die Drehbuchschreiber aus einer Kiste mit Schachmaterial zufällig ein paar Phrasen zusammengewürfelt haben. Für Schachfans ist die Wahrnehmung ungefähr die gleiche, die ein Hund verspüren muss, wenn ein Mensch ihn anzubellen versucht.

Vor Kurzem habe ich die Netflix-Serie “Das Damengambit” (The Queen’s Gambit) gesehen. Die Serie ist, was die schachlichen Elemente angeht, ebenfalls nicht gerade realitätsnah, jedoch besser als so ziemlich alles, was davor kam. Als Kenner des Spiels muss man darüber hinwegsehen, dass die Charaktere dort immer noch auf eine Weise miteinander reden, wie es wirkliche Schachgroßmeister nie tun würden, und dass die Partieabläufe auf eine Weise zusammengeschnitten sind, dass sie einem normalen Publikum zumutbar sind. Zumindest die Partien - bzw. die Teile, die auf dem Bildschirm gezeigt wurden - machen wahrhaftig Sinn.

Es ist sicher nicht praktikabel, in einem Unterhaltungsrahmen wesentlich weiter zu gehen, als es das “Damengambit” getan hat. Reale Schachpartien dauern Stunden und sind deshalb in der Regel langweilig anzuschauen. Um die Feinheiten zu würdigen, muss man nicht nur die Regeln kennen, sondern auch darüber hinaus erhebliches Fachwissen besitzen. Dieses Wissen kann weder vorausgesetzt noch in einem vernünftigen Umfang auf dem Bildschirm vermittelt werden. Ganz ehrlich, Schach ist nun mal keine publikumswirksame Sportart.

Ob Schach überhaupt Sport ist, darüber wird seit Längerem heftig gestritten, jedenfalls in Deutschland. Die Argumente von Verfechtern der verschiedenen Standpunkte sind grundsätzlich bekannt und konnten zuletzt kaum noch verbessert werden. Es scheint nicht so, als ob eine Seite die andere überzeugen kann. Aber um die geringen Fördermittel abzugreifen, die der Deutsche Olympische Sportbund bereitstellt, muss Schach auf jeden Fall so tun, als ob es ein Sportart wäre. Daher müssen sich Schachspieler mitunter Dopingkontrollen unterziehen und Urinproben abgeben. Nur Verrückte!

Lasst uns die Begrifflichkeiten mal ignorieren. Gelegentlich vergleiche ich Schach im Geiste mit anderen Randsportarten. Hin und wieder schaue ich im Fernsehen Golf, Darts oder Snooker. Nichts davon hält mich über lange Zeiträume am Bildschirm, trotzdem sehe ich es mir in kleinen Portionen gern an. Die Wettkämpfe dort sind nun mal spannender und eingängiger, ohne Wenn und Aber. Darüber hinaus finde ich auf den Nachrichtenseiten meiner Wahl selbst bei den genannten Disziplinen vereinzelt Meldungen zu den Athleten, die über die eigentlichen Sportevents hinausgehen. Im Schach ist das nicht zu erwarten. Sogar unter den Randsportarten hat Schach nochmal einen Sonderstatus.

Es gab Zeiten, als über schachliche Spitzenveranstaltungen fast täglich in den Medien berichtet wurde; denken wir nur an die WM-Kämpfe zwischen Karpow und Kasparow in den 1980ern oder die Matches zwischen Schachspielern und Schachcomputern seit Ende der 1990er, in denen sich erstmals die besten Menschen einer Maschine geschlagen geben mussten. Inzwischen liegen diese Tage weit hinter uns, und sie werden wohl auch nicht wiederkommen. Die Welt interessiert sich nicht mehr für Schach.

Wenn Schach überhaupt Headlines bekommt, dann hauptsächlich durch Skandale. Der Deutsche Schachbund (DSB) hat es - nach meinem Verständnis hauptsächlich durch Misswirtschaft und Inkompetenz - vor ein paar Jahren geschafft, beinahe pleite zu gehen. Die internationale Schachföderation (FIDE) streitet sich mit diversen aufkommenden Konkurrenz-Organisationen um deren Existenzberechtigung, so dass das Schachspiel selbst in den Hintergrund gerät. Und es hilft auch nicht, dass die FIDE zu großen Teilen durch russische Kräfte kontrolliert wird.

Einen Bekanntheitsschub gab es, als der Norweger Magnus Carlsen - laut einhelliger Meinung seit über 10 Jahren der stärkste Spieler auf dem Planeten - einen seiner Gegner des Betrugs bezichtigte. Plötzlich war Schach für die Welt wieder interessant. Es begann eine öffentliche Schlammschlacht, gefolgt von einem juristischen Gerangel, das vom Gehalt her an den Rosenkrieg zwischen Johnny Depp und Amber Heard erinnerte. Das letzte, was ich mitbekommen habe, war die Ankündigung, dass der gesamte Zwischenfall verfilmt werden soll. Popcorn für alle!

Carlsen war seitdem noch ein paarmal in den Schlagzeilen, unter anderem als er bei einer Meisterschaft disqualifiziert wurde, weil er sich weigerte, der Kleiderordnung genügende Hosen zu tragen. Das ist besonders putzig, wenn man bedenkt, dass Carlsen durch seinen Erfolg unter anderem Werbeverträge mit einem Jeans-Hersteller hatte. Jornalisten griffen den Vorfall prompt mit Begeisterung auf, wobei sich die Bezeichnung “Jeans Gambit” für den Vorfall etablierte. Die Angelegenheit liegt schon einige Monate zurück, aber die Berichte darüber sind immer noch leichter im Internet zu finden als die eigentlichen Turnierergebnisse.

Abgesehen von Carlsen kommen die stärksten Spieler dieser Tage aus Ländern wie Indien oder China, d.h. unsereiner hat schon Mühe, die Namen der Akteure korrekt auszusprechen, geschweige denn sich für die dahinterstehenden Persönlichkeiten zu interessieren. Darüber hinaus ist - ich wiederhole mich - Schach nicht spannend, zumindest in der klassischen Variante. Es gibt keine bösen Fouls, keine dämlichen Fanaktionen, keinen Antonio Rüdiger, der auf den Schiedsrichter losgeht. Wo soll da die Begeisterung für Schach herkommen?

Am schlimmsten trifft es das Frauenschach, in jeder Hinsicht. In den letzten Wochen fanden mehrere Frauen-Spitzenevents statt, konkret ein WM-Match (zwischen zwei Chinesinnen), eine EM mit vierfacher deutscher Beteiligung sowie ein Turnier der laufenden Grand-Prix-Serie; das letztere ist eine Reihe von Turnieren mit insgesamt 20 der stärksten Spielerinnen der Welt, wobei in jedem Turnier 10 von ihnen gegeneinander antreten. Der Rest der Welt hat davon nichts mitbekommen. Bei den Männern gab es wenigstens mal eine Kurzmeldung, als um den Weltmeistertitel gefochten wurde. Bei den Frauen: gar nichts. Es ist eine Schande.

Um den Stellenwert der Frau im Schachsport aufzupolieren (wie ich annehmen möchte), wurde das Jahr 2022 zum Jahr des Frauenschachs erklärt. Hauptsponsor der Aktion war - ich wünschte, ich hätte es mir ausgedacht, aber es ist wirklich so - ein Hersteller von Brustimplantaten. Mit anderen Worten, die Rolle der Frau soll dadurch verbessert werden, dass man sie auf ihre Oberweite reduziert. Offiziell mit dem Kampf für Gleichberechtigung beauftragt wurde ausgerechnet Saudi-Arabien, d.h. wir überlassen diesen Kampf einer Gesellschaft, in der Frauen nicht viel weniger als gesteinigt werden, wenn ihnen beim Spielen das Kopftuch verrutscht. Das sagt doch wohl alles.

Vor einer Weile habe ich von einem hochrangigen Turnier der Frauen in Indien mit internationaler Beteiligung gelesen, bei dem - abgesehen von diversen sonstigen Komplikationen - den Spielerinnen allen Ernstes nahegelegt wurde, ihr Hotel abends nicht ohne männliche Begleitung zu verlassen. Austragungsort und Unterkunft lagen anscheinend in einer Gegend, in der Frauen besser nicht allein unterwegs sein sollten. So sieht in der Realität die Wertschätzung für Frauenschach aus.

Ich könnte weiter über schachliche Themen lamentieren, über die Rolle der Frau, über die Darstellung in den Medien, eigentlich so ziemlich über alles. Es würde nichts bringen. Schach befindet sich auf einem absteigenden Ast. Zwar wird Schach in den besagten elitären Kreisen noch gespielt (und dabei wird eine Menge Geld umgesetzt, was heutzutage ja die Hauptsache ist). Dennoch ist das Spiel schon lange nicht mehr königlich, jedenfalls was seinen Status in unserer Gesellschaft angeht. Wenn es eine App gäbe, mit der man seinem Gegner nach dem Spiel den Kopf wegblasen könnte, sähe das vielleicht anders aus.