Saturday, July 1, 2023

The roads not taken

Auf einer Nachrichtenseite habe ich gelesen, im Vereinigten Königreich hätte es 2020 Pläne gegeben, im Rahmen der Corona-Bekämpfung alle Hauskatzen töten zu lassen. (Um welche Webseite es sich handelt, ist dabei nicht so wichtig, da die Betreiber ihre News sowieso nur von anderen Seiten abtippen und dabei - vermutlich zwecks Vorspiegelung von Originalität - reichlich Rechtschreibfehler einbauen.) Nur Verrückte!

Mit mittelalterlichen Denkmustern wird man ja immer mal wieder konfrontiert, jedoch selten in dieser Deutlichkeit. Mir persönlich wäre es lieber gewesen, wenn die Katzen in dem Land beschlossen hätten, die Menschen auszurotten. Zwar habe ich nicht grundsätzlich etwas gegen Briten, aber weil ich Katzen noch mehr mag, wäre mir das wie ein vielversprechender Schritt vorgekommen, insbesondere da er die Welt zwei Jahre früher von Boris Johnson befreit hätte.

Die Worte “Mögest du in interessanten Zeiten leben” kommen mir in den Sinn. Angeblich handelt es sich um einen alten chinesischen Fluch, d.h. das Wort “interessant” wird hier negativ bewertet. Eine kurze Recherche im Internet ergab, dass die Ursprünge des Ausspruchs alles andere als gesichert sind. Das finde ich allerdings gerade nicht so wichtig; wenn die Chinesen das früher wirklich gesagt hätten, könnte man sie gut verstehen.

Man muss nicht über Staatsgrenzen hinwegschauen, um auf derart gestörte Ideen zu stoßen. Auch hierzulande gibt es ab und zu Pläne, bei denen man nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann. In einem Land, das am Tempolimit und an der Energiewende scheitert, das nicht den richtigen Umgang mit Klimaaktivisten findet und kein gerechtes Steuersystem zustande kriegt, spricht die Regierung an einem Tag über die Legalisierung von Marihuana, am nächsten über eine eigene Mondmission. Die meisten dieser Pfade werden nicht eingeschlagen. Doch allein der Umstand, dass sie in Erwägung gezogen werden, macht mir Angst.

Schlagzeilen wie die obige machen deutlich, dass um uns herum nicht nur immer wieder irgendwelche Verrücktheiten geschehen, sondern dass es darüber hinaus einen gigantischen Pool an hypothetischen Aberwitzigkeiten gibt, die letztendlich nicht eintreten. Sie werden entweder gerade noch rechtzeitig durch vernunftbegabte Mitglieder der Gesellschaft verworfen oder anderweitig durch glückliche Fügungen des Schicksals aussortiert.

Bis Ende 2016 konnte man sich damit trösten, dass die wahrhaft gruseligen Dinge in der Welt typischerweise nicht passieren. Man ging in dem Wissen durchs Leben, dass zwar theoretisch so ziemlich alles möglich ist, aber dass die gesammelte zivilisatorische Intelligenz uns schon irgendwie vor dem Allerschlimmsten bewahren wird. Dann kam Donald Trump.

Ich hatte bei der besagten US-Präsidentschaftswahl ein mieses Gefühl, schon allein deshalb, weil Hillary Clinton die Gegenkandidatin war - auch nicht gerade ein Sonnenschein demokratischer Werte. Trotzdem glaubte ich bis zum Abend (aufgrund der Zeitverschiebung ging die Wahl nach mitteleuropäischer Zeit bis mitten in die Nacht) irgendwie daran, dass sich das kleinere Übel durchsetzen würde. Ich wurde enttäuscht.

Es ist ja nicht so, dass die Welt gleich am nächsten Morgen aus den Angeln gehoben wurde. Vielmehr kam es mir - und sicher vielen anderen ebenso - zunächst wie ein böser Traum vor. Man brauchte eine gewisse Zeit, um zu realisieren, wie das neue Weltprogramm aussehen würde. Erst als sich die Monate und Jahre seiner Amtszeit so dahinschleppten und Trump eine bekloppte Entscheidung nach der nächsten traf (unterbrochen nur durch genauso bekloppte Pressekonferenzen von ihm bzw. seinem Stab), wurde deutlich, was für ein böser Geist uns da geschenkt worden war.

Für diejenigen meiner Leser, die zu der amerikanischen Politik prinzipiell eine gewisse Distanz verspüren (oder die entsprechende Phase komplett verschlafen haben), hier eine kurze Analogie. Stellen wir uns vor, Karl-Theodor zu Guttenberg - vom politischen Selbstverständnis her das beste Ebenbild im Kontext Deutschlands, das mir spontan eingefallen ist - hätte sich bei der Wahl zum Bundeskanzler aufstellen lassen. Im Wahlkampf hätte er angekündigt, aus der EU auszutreten, eine Mauer an die polnische Grenze zu bauen und Frauen das Wahlrecht nehmen zu wollen.

Zweifellos würde man das im Vorfeld als eine unseriöse Fiktion abtun. Doch nehmen wir weiterhin an, er würde wirklich gewählt werden (auch von den Frauen) und finge an, den ganzen Blödsinn in die Tat umzusetzen. Eine schreckliche Vorstellung, wenn ihr mich fragt. Nun, ungefähr so haben sich die Dinge in den Vereinigten Staaten entwickelt, wenngleich ein Teil der Auswirkungen von Trumps Aktivitäten bei uns nicht angekommen ist. Als Joe Biden vier Jahre später die Wahl gewann, war ich so glücklich wie selten.

Ich würde ja gern sagen, dass dieses Horror-Szenario jetzt endgültig hinter uns liegt. Aber ach! Trump könnte durchaus zur nächsten Wahl wieder antreten und ggf. erneut gewinnen; erschreckenderweise ist das nicht unplausibel. Was wird passieren, wenn es soweit kommt? Naja, Putin wird auf jeden Fall feiern, weil dann der westliche Zusammenhalt endgültig wegbricht. Lukaschenko wird ebenfalls feiern, jedenfalls wenn Putin es ihm erlaubt. Die diversen Erdogans und bin Salmans da draußen werden sich freuen. Selbst der Gartenzwerg in Nordkorea wird es als Bestätigung seiner Rolle in der Welt wahrnehmen. Und die Chinesen werden sich schlapp lachen.

Ich vermisse die Zeiten, als man bei Entscheidungsprozessen von globaler Wichtigkeit davon ausgehen konnte, dass die Menschen manche Wege aus Prinzip nicht gehen würden. Leider fürchte ich, sie werden nicht zurückkommen. Die Verrückten werden in Zukunft dafür sorgen, dass alles Denkbare, und sei es noch so bescheuert, tatsächlich umgesetzt wird. Es sind interessante Zeiten, in denen wir leben.