Thursday, October 12, 2023

Brot und Spiele

Das Dschungelcamp hat den Deutschen Fernsehpreis gewonnen. Ausgerechnet das Dschungelcamp! Damit ist die Position als Spitzenreiter der Verdummungsparade in der deutschen TV-Landschaft gewissermaßen offiziell. Eigentlich darf man sich über ein derartiges Resultat nicht wundern, wenn Reality TV eine eigene Kategorie bekommt; trotzdem ist das diesjährige Ergebnis nochmal eine besondere Bestätigung dafür, wie tief das deutsche Fernsehen über die Jahre gesunken ist.

Generell muss die Aussagekraft eines solchen Preises immer im Kontext der Konkurrenten in seiner Kategorie gesehen werden. Wenn man einem Chefkoch Spinnen, Kakerlaken und Regenwürmer serviert und ihn dann bittet, das beste Gericht zu krönen, werden die Kakerlaken zwar mitunter gewinnen. Doch das allein ist keine absolute Wertung ihrer geschmacklichen Qualitäten; es ist vielmehr ein Statement über die Qualität der Gesamtauswahl. Ungefähr so sehe ich auch den Versuch an, das beste deutsche Reality TV zu bestimmen.

Wir müssen uns wohl von dem Gedanken verabschieden, dass deutsche Fernseh-, Musik- oder sonstigen Preise etwas wert sind. Was den Fernsehpreis angeht, hatte uns Marcel Reich-Ranicki 2008 schon klar seine Meinung gesagt. 2018 gab es den Echo-Skandal, als dieser bis dahin relativ angesehene Musikpreis an ein Rapper-Duo gehen sollte, die mit antisemitischem Textgut erfolgreich waren. Einige andere Künstler, die noch einen Rest Anstand besaßen, gaben ihren Preis prompt zurück und sorgten damit im Prinzip für das Ende der traurigen Trophäe. Kurz gesagt, was wir kulturell auszeichnen, steht einfach nicht auf der gleichen Stufe wie ein Oscar oder Grammy.

Zurück zum Dschungelcamp. Der Ausdruck “Brot und Spiele” kommt mir in den Sinn. Schon die alten Römer wussten, dass man ein Volk nur ernähren und unterhalten muss, um es bei der Stange zu halten. Seitdem haben wir 2000 Jahre zivilisatorischer Entwicklung hinter uns, so dass es jetzt nicht mehr “Brot und Spiele” heißt, sondern “Hartz IV und Dschungelcamp”. Trotzdem sind wir vom Kern der Sache her wieder genau dort angekommen, wo wir unsere Reise begonnen haben.

Es ist erschreckend, wie leicht das Volk zu beschäftigen und zu beglücken ist. Vor 15 Jahren waren es Handy-Klingeltöne, heute ist es Reality-TV, und neben allen anderen Dingen gibt es ja immer den Sport. Damit meine ich wohlgemerkt nicht die seriösen Zuschauer, die eine sauber vorgetragene Kür im Geräteturnen genießen wollen, sondern primär die Masse von stupiden Stadionbesuchern, die einfach nur einen Ort suchen, um selbstgemachtes Feuerwerk abzufackeln und sich gegenseitig die verbleibenden Gehirnzellen rauszuprügeln.

Vor ein paar Tagen hörte ich in den Nachrichten, in der Premier League hätten sich zwei sogenannte “Fans” per Plakat über ein totes Kind lustig gemacht, das in irgendeiner Beziehung zum gegnerischen Club stand. Furchtbar, aber kein Einzelfall - denken wir nur an die Affengeräusche von minderbemittelten Tribünenbewohnern, sobald im deutschen Fußball unten auf dem Platz ein farbiger Spieler an den Ball kommt. Ich glaube, in einem ganzen Block voller Ultras kommt nicht genug Grips zusammen, um das kleine Einmaleins aufzusagen.

Wenn wir mal ehrlich sind, ist diesen Leuten das eigentliche Spielergebnis so ziemlich egal. Wir reden hier über ein evolutionäres Abstellgleis, d.h. über Menschen, die sich nur unter ihresgleichen wohl fühlen, weil sie nur dort noch ein gewisses Statusgefühl besitzen können. Vermutlich muss es ab einer gewissen Populationsgröße eine solche Schicht geben; schade ist allerdings, dass ihnen in den Medien immer wieder eine Plattform geboten wird.

Dass das Spektakel einen größeren Wert als die sportliche Leistung besitzt, ist auch anderswo normal. Bei der Tour de France wird es als so wichtig angesehen, möglichst hautnah dabei zu sein, dass es dabei kaum eine Rolle spielt, wenn die Zuschauer die Fahrer zu Fall bringen. Bei der Formel 1 hoffen alle auf einen Massencrash, weil das viel mehr Schlagzeilen als ein Start-Ziel-Sieg bringt. Und der Sport in den USA ist nochmal ein Kapitel für sich.

Vergleichsweise harmlos sind die Baseball-Fans, die ein Spielutensil aus dem laufenden Match stibitzen, weil es irgendwann mal viel wert sein könnte (ungefähr so wie die Flitzer bei uns, nur stärker profitorientiert). Ein größeres Problem - vielleicht sehe ja nur ich das als Problem an - ist die selbst im Sport zunehmende Freude an der Gewalt. In manchen der für Amerika typischen Sportarten ist sie das dominierende Element (”Ich wollte zu einem Boxkampf gehen, aber dann brach ein Eishockey-Spiel aus”). Ich habe sogar gehört, dass Football-Spielern mitunter eingebläut wird, eine gebrochene Rippe eines Gegenspielers wäre mehr wert als ein Touchdown.

Das alles macht deutlich, wie weit wir uns von der ursprünglichen Idee des Sports (gesunder Körper, gesunder Geist und so) entfernt haben. Vom olympischen Wettbewerbsgedanken haben wir uns lange verabschiedet; inzwischen ist die körperliche Leistung der Athleten praktisch irrelevant, solange auf den Zuschauerblöcken laut genug gekreischt und gebrüllt wird, und natürlich solange durch Banden- und Trikotwerbung hinreichend viel Geld umgesetzt wird.

Wir leben das Prinzip “Brot und Spiele” nicht nur, wir zelebrieren es regelrecht. Wir animieren einen Teil der Bevölkerung dazu, in regelmäßigen Abständen die Pyrotechnik und die Banner mit den hässlichen Parolen rauszusuchen, zum Stadion zu fahren, den Verstand am Eingang abzugeben und dann unter der Maske des Besuchs sportlicher Wettkämpfe ihren Aggressionen freien Lauf zu lassen. Der Fußball ist zu einer Methode der systemischen Verdummung verkommen. Er ist wie ein Dschungelcamp, nur mit Ball und Eckfahnen.