Saturday, December 9, 2023

Zu dumm zum Leben

In der U-Bahn, mit der ich gestern gefahren bin, wies ein Schild darauf hin, dass eine Tür kaputt sei. Es war beeindruckend mitzuerleben, wie vielen Fahrgästen dieser Umstand entgangen ist, weil ihr Geist gerade Urlaub hatte. Auf einer Distanz von neun Stationen habe ich elf Personen gezählt, die nicht nur vergeblich versuchten, an der besagten Stelle ein- bzw. auszusteigen, sondern auch noch angemessen verwirrt dreinschauten, weil sich die klar als defekt gekennzeichnete Tür auf Knopfdruck nicht öffnete.

Verdummung in Alltagssituationen ist ein Phänomen der heutigen Zeit, das man nicht einfach wegreden kann. In der Europa Passage - einem Einkaufszentrum am Jungfernstieg, für die Ortsunkundigen - habe ich kürzlich eine Frau erlebt, die wahrhaftig an der Benutzung einer Drehtür scheiterte. Sie lief gegen eine der Zwischenwände der rotierenden Anlage und sah nach der Kollision sehr verblüfft aus. Ich wünschte, ich hätte es mir ausgedacht, aber es ist wirklich passiert. Sie gehörte zu einem Menschenschlag, von dem ich bisher geglaubt hatte, er würde nur in Blondinenwitzen existieren.

In den beschriebenen Fällen hatten die Dummheiten praktisch keine Konsequenzen (weder für die “Protoagonisten” noch für ihre Mitmenschen). Das ist leider nicht immer so. Auf die folgende Episode bin ich zufällig im Internet gestoßen. Sie betrifft die Interaktion zweier Männer namens Robert Westlake und Jason Boek, die für einen der beiden tödlich endete. Das Ereignis trug sich vor einigen Jahren in den USA zu, genauer gesagt in Florida. Alles, was ich hier schreibe, habe ich aus Medienberichten, also nagelt mich bitte nicht auf Details fest.

Über Jason Boek habe ich fast nichts im Internet gefunden. Er war ein junger Mann von 34 Jahren und schien Probleme mit seinem Temperament zu haben - jedenfalls bis zu jenem denkwürdigen Tag, danach sicher nicht mehr. Robert Westlake war geringfügig älter; er arbeitete als Sicherheitskraft, ging zur Polizeischule und verdiente sich daneben noch ein paar Dollar als Uber-Fahrer.

An dem fraglichen Tag drängte Boek mit seinem Pick-up den Wagen von Westlake von der Straße. Anscheinend glaubte er, dass seine Freundin - mit der er kurz zuvor Streit hatte - bei Westlake auf der Rückbank saß. In Rage sprang er aus seinem eigenen Fahrzeug, schrie herum (unter anderem dass er eine Pistole bei sich hätte) und drohte unvermittelt damit, Westlake zu erschießen. Der ließ es nicht darauf ankommen. Er trug selbst eine Waffe und schoss zuerst.

Innerhalb kürzester Zeit stellte sich heraus, dass Boek während seines Wutausbruchs gar keine Schusswaffe mit sich führte. Er war vielmehr mit seinem Handy bewaffnet. Die Redewendung “mit einem Messer zu einer Schießerei kommen” drängt sich auf, aber wenn man dann auch noch das Messer zu Hause vergisst, ist das wirklich kein Zeichen von Intelligenz. In sozialen Netzwerken gab es ein paar Hass-Kommentare gegen Westlake, doch in meinen Augen hat Boek den Ausgang der Konfrontation - er starb innerhalb von wenigen Minuten - ganz allein sich selbst zuzuschreiben.

Hier ein interessantes juristisches Detail, das ich vorher nicht kannte. Florida ist einer von zahlreichen US-Bundesstaaten, in denen ein sogenanntes “Stand-your-ground”-Law (sinngemäß: “Nicht-zurückweichen”-Gesetz) gilt. Von vornherein sollen US-Bürger von Gesetzes wegen, wenn sie angegriffen werden, zunächst versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Diese Verpflichtung wird durch das “Stand-your-ground”-Prinzip allerdings außer Kraft gesetzt, d.h. in solchen Bundesstaaten darf man in Selbstverteidigungssituationen direkt Gewalt anwenden und Notwehr geltend machen.

Vor diesem Hintergrund gab der hiesige Sheriff Westlake Rückendeckung; in einer offiziell klingenden Stellungnahme betonte er, dass das “Stand-your-ground”-Law genau für derartige Fälle gedacht sei. Meines Wissens gab es in der Folge auch tatsächlich kein juristisches Nachspiel für Westlake. Allerdings wurde angedeutet, dass er möglicherweise seine Uber-Lizenz verlieren könnte, weil Uber-Fahrern im Rahmen ihrer Tätigkeit das Tragen von Waffen verboten sei.

Ob ein derartiges Gesetz gut oder schlecht ist, sei einmal dahingestellt; es ist jedenfalls erstmal da. (Laut Wikipedia ist die Rechtslage in Deutschland übrigens relativ ähnlich.) Man kann jetzt die Moral-Frage aufwerfen, ob Boek für seine Aktion den Tod verdient hat; andererseits müsste man dann genauso philosophisch klären, ob er das Leben verdient hat. Ohne den Mann besser gekannt zu haben, ist eine solche Erörterung sinnlos, also beschränken wir uns am besten auf die einfache Feststellung, dass das Ganze kein sehr schlauer Zug von ihm war.

Erwähnenswert ist noch, dass die Sache Robert Westlake stark mitgenommen hat. Zum einen hat er kurz nach dem Gebrauch seiner Schusswaffe versucht, Boek wiederzubeleben (ohne Erfolg, wie bereits angedeutet). Zum anderen hat er in Interviews wiederholt sein Bedauern über den Vorfall zum Ausdruck gebracht. Wenn man bedenkt, dass ihm die Entscheidung über Leben und Tod durch Boek von einer Sekunde auf die andere aufgezwungen wurde, halte ich seinen Umgang mit der Angelegenheit für ausgesprochen sympathisch. Er kommt mir wie ein tragischer Held vor.

Fassen wir einmal Boeks Handeln zusammen:

  • Er behelligt ohne guten Grund eine andere Person und droht, diese umzubringen.
  • Er tut dies gegenüber einem Mann, der bewaffnet (und im Übrigen auch hervorragend geschult im Umgang mit einer Schusswaffe) ist.
  • Er tut dies in einem Land, in dem die Menschen das Tragen von Waffen als Grundrecht religiös zelebrieren.
  • Er tut dies in einem Bundesstaat, in dem die Gesetzeslage den Menschen quasi einen Freifahrtschein zum Einsatz von tödlicher Gewalt bei der Selbstverteidigung gibt.
  • Er tut dies unbewaffnet.

In der Serie “Game of Thrones” hat der Charakter Tyrion Lannister mal einem seiner Gegner auf unterhaltsame Weise den Unterschied zwischen einer leeren und einer echten Drohung erklärt. Wenn Boek sich mit der Thematik im Vorfeld hinreichend vertraut gemacht hätte, wäre er heute vielleicht noch am Leben.

In vergangenen Artikeln hatte ich hin und wieder den Darwin Award erwähnt. Auf Basis der obigen Liste sollte Jason Boek ein vielversprechender Kandidat für den Preis sein. Mehr noch: Er hat nicht nur sich selbst aus dem Genpool entfernt, sondern - siehe das zuvor erwähnte Statement des Sheriffs - auch die Rechtslage dahingehend bestätigt, dass vergleichbare Idioten unter vergleichbaren Umständen ebenfalls abgeknallt werden dürfen. Ich finde, er sollte einen Darwin-Ehrenaward bekommen, sozusagen den Preis für ein (Ab-)Lebenswerk.