Saturday, January 28, 2023

Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

Um den Jahreswechsel herum war ich mal wieder mit der Bahn unterwegs. Es ließ sich leider nicht vermeiden. Diejenigen von euch, die eine frühere Version dieser Webseite kennen, werden wissen, dass ich die Deutsche Bahn nicht mag. Und da die Bahn ihre Kunden (”Beförderungsfälle”) ebenfalls nicht mag, befindet sich die Sache gewissermaßen im Gleichgewicht.

In der Vergangenheit hatte ich über einen längeren Zeitraum hinweg meine Fahrten dokumentiert, Verspätungen ausgerechnet, usw. Im aktuellen Fall gab es, zumindest was die Pünktlichkeit anging, keine Probleme. Stattdessen fiel der Zug einfach aus und wurde durch einen zur gleichen Zeit verkehrenden Ersatzzug ersetzt. Die Konsequenz davon war, dass alle Reservierungen verfielen. (Mein Eindruck war, dass der neue Zug insgesamt weniger Sitzplätze als das ursprünglich vorgesehene Modell haben würde.)

Ich konnte es nicht ändern, aber nur um über meine Möglichkeiten im Bilde zu sein, suchte ich den Info-Schalter am Bahnhof auf. Auf der anderen Seite der Scheibe saß eine Bahn-Schnatze, der anzusehen war, dass sie sich nicht die Bohne für die Probleme von Reisenden interessierte. In ihrer Erscheinung erinnerte sie mich an Loriots Ödipussi (”Wir hätten gern das Aschgrau”), kombiniert mit dem IQ eines Fischstäbchens. Ihr könnt euch vorstellen, mit welcher Erwartungshaltung ich in das Gespräch ging.

Die gute Nachricht lautet, wenn man seine Erwartungen nur niedrig genug ansetzt, kann man nicht mehr enttäuscht werden. Ich war ziemlich zuversichtlich, von ihr keine hilfreiche Antwort zu bekommen, und genau das trat auch ein. Nachdem ich mein Anliegen geschildert hatte, beglückte sie mich mit der lapidaren Erwiderung “Einfach hinsetzen wo Platz ist”. Ich dankte ihr für die - gemessen an ihren Möglichkeiten - hochwertige Auskunft und verzog mich wieder auf den Bahnsteig.

Wir reden hier wohlgemerkt über eine der stärksten Reisezeiten im Jahr, einen effektiv ausgebuchten ICE, dazu kommt noch eine beträchtliche Anzahl an Passagieren, welche die Fahrt von vornherein ohne Reservierung antreten. Und in dieser Situation wird der Zug durch einen kürzeren Ersatzzug ausgetauscht. Sofern man nur ein bisschen was im Kopf hat, wird man erkennen, dass “Einfach hinsetzen wo Platz ist” nicht funktionieren kann.

Mit Müh und Not fand ich letztendlich tatsächlich einen Sitzplatz; viele andere Reisende (von denen sicher einige gleichermaßen über eine Sitzplatzreservierung verfügten) mussten stehen. Die Fahrt war in jeder Hinsicht unkomfortabel. Immerhin ließ sich die Bahn großzügigerweise zu einer Erstattung der Reservierungskosten von 4,50 Euro herab.

Dass die Bahn unzuverlässig ist, ist ein Grund, warum ich nur noch selten Fernfahrten antrete. Ein anderer ist die Unfähigkeit ihrer Mitarbeiter, bei Havarien sinnvolle Auskünfte zu geben, aber auch ihre Art, dabei noch so zu tun, als wären das Bagatellen und sie hätten die Sache im Großen und Ganzen im Griff. Wenn es mal brennt, wird das euphemistisch als “Verzögerung im Betriebsablauf” abgetan. Und ihr habt bestimmt davon gehört, dass die Bahn ihre Pünktlichkeitsstatistik schlichtweg dadurch verbessert, dass sie den Begriff “pünktlich” umdefiniert.

Es ist ein Wesenszug unserer Zeit, Probleme nicht zu lösen, sondern nur schönzureden. Das passiert ständig, und zwar in allen Bereichen des Lebens. Wenn irgendwo ein Missstand aufgedeckt wird, diskutieren die Verantwortlichen erst herum und erstellen dann eine PowerPoint-Präsentation mit Diagrammen, welche die Situation zwar nicht verbessern, jedoch immerhin in einem besseren Licht erscheinen lassen. Im Extremfall wird die Darstellung der Fakten so stark verzerrt, dass die Problematik gar nicht mehr zu existieren scheint.

Mir ist mal ein Vorfall zu Ohren gekommen, der besonders kurios wirken würde, wenn der Gesamtkontext nicht so deprimierend wäre. Er bezieht sich nämlich auf eine Pflegeeinrichtung. Dass der Pflegebereich zahlenmäßig völlig überfordert ist, dürfte kein Geheimnis sein (gelegentlich wird schon von einem bevorstehenden Kollaps gesprochen). Um die Sache zu veranschaulichen, nehme ich mir die Freiheit heraus, die Zahlen etwas zu vereinfachen.

Stellt euch vor, in der fraglichen Einrichtung besteht das Personal aus drei Angestellten, und von jedem von ihnen wird erwartet, pro Stunde zehn “Aufgaben” zu erledigen. Allerdings kommen pro Stunde vierzig Aufgaben neu herein, so dass ein Teil davon auf der Strecke bleibt. Vernünftig wäre es unter diesen Umständen, ein oder zwei Leute mehr einzustellen. Aber das kostet Geld, ist also wirtschaftlich unattraktiv.

Die stattdessen gewählte Lösung bestand darin, die Tätigkeitsbeschreibung der Mitarbeiter so umzuformulieren, dass 15 (oder sogar 20) Aufgaben pro Stunde zu erfüllen sind. Damit sind die Zahlen wieder grün, und sobald das nächste Mal das Wort “Personalmangel” fällt, kann der Leiter der Einrichtung kontern: Wieso Personalmangel? Wir haben mehr als genug Leute; unser Personal schafft 45 (bzw. 60) Aufgaben pro Stunde. Dass die Umsetzung dieser Anforderung praktisch gar nicht machbar ist, steht auf einem anderen Blatt.

Ein weiteres Beispiel, auf das ich kürzlich wieder gestoßen bin: Die PISA-Studie. Vor zwanzig Jahren wurde damit begonnen, das Bildungslevel unserer Schüler zu untersuchen, und es wurde ein unerwartet niedriges Level diagnostiziert. Kurz gesagt, Deutschland steht in der internationalen Statistik nicht dort, wo es gern stehen würde. Seitdem wurde mehrfach das Anliegen geäußert, die Ergebnisse der Studie eigenständig auszuwerten und neue Statistiken zu erstellen - zweifellos mit dem Ziel, uns selbst einen besseren Bildungsstatus zu bescheinigen. In der Realität haben sich die Ergebnisse natürlich nicht massiv verändert.

Leider neigen unter den Tisch gekehrte Probleme dazu, irgendwann wieder an die Oberfläche zu treten. Wohin dieser Umgang mit Missständen genau führt, ist schwer zu sagen. Klar ist jedoch: Wenn es soweit ist, werden - lasst mich das erste Beispiel symbolisch wieder aufgreifen - die Sitzplätze zu knapp sein. “Einfach hinsetzen” kann sich dann nur der privilegierte Teil der Bevölkerung, und alle anderen müssen stehen.