Saturday, February 4, 2023

Ein Land läuft Amok

Neulich habe ich in den Nachrichten gehört, dass in den USA ein Sechsjähriger eine Waffe in die Schule mitgenommen und auf seine Lehrerin geschossen hat. Vielleicht hat sie ihn ja hundertmal “Du sollst nicht töten” schreiben lassen, und er hatte seine eigene Meinung dazu - ich weiß es nicht. Der Fall ist verstörend genug, aber mindestens genau bemerkenswert ist die Sache, dass das Ereignis ein paar Tage später im Prinzip bereits abgehakt ist.

Die zunehmende Gewalt im Alltag ist ein unerfreuliches Thema, und in Amerika trifft sie auf einen besonderen Nährboden. Der Zweite Verfassungszusatz (welcher, kurz gesagt, den Menschen den Besitz und das Tragen von Waffen als Grundrecht zusichert) wird dort geradezu religiös verehrt. Kaum eine Errungenschaft wird in dem Land stärker gefeiert. Die hartgestottenen Amerikaner - man fragt sich unwillkürlich, ob es überhaupt noch andere gibt - würden den obigen Vorfall zwar als bedauerlich bezeichnen, aber die wahre Tragödie wäre es in ihren Augen, wenn der Gesetzgeber ihn zum Anlass nähme, um die Waffengesetze zu verschärfen.

Natürlich ist der besagte Zweite Verfassungszusatz nicht in erster Linie für Grundschüler gedacht. In dem genannten Fall war es wohl so, dass der Bengel morgens die Pistole seiner Mutter eingesteckt und im Laufe des Tages gegen seine Lehrerin gerichtet hatte. Andererseits ist es reichlich naiv zu glauben, dass man kontrollieren könne, wo und wann die Waffen zum Einsatz kommen, welche dort in so gigantischen Mengen unters Volk gebracht werden.

Angeblich kaufen viele US-Bürger eine Handfeuerwaffe mit dem theoretischen Ziel, sich gegen Einbrecher zu schützen. In der Praxis liest man ständig von Kindern, die beim Spielen versehentlich ein Geschwisterchen oder ein Elternteil abgeknallt haben. Aber selbst wenn man den Menschen dort diese Stories immer und immer wieder vorkaut, wollen die meisten trotzdem nicht, dass sich etwas ändert. In meiner Eigenschaft als ehrenamtlicher Hobbypsychologe möchte ich mal mutmaßen, dass das mit einem Gefühl von Kontrollverlust zu tun hat: Solange der Ami eine Waffe besitzt, denkt er auch, dass er sein Schicksal fest im Griff hat.

Die traurige Realität sind wie gesagt Zwischenfälle, die nichts mit Selbstschutz zu tun haben. Alle paar Monate gibt es in den USA einen schwereren Amoklauf - so oft, dass man sie schon gar nicht mehr alle im Gedächtnis aufbewahren kann. Nur noch vage erinnere ich mich an das Parkland-Schulmassaker, hauptsächlich weil eine Überlebende bei ihrer Rede im Rahmen einer Gedenkfeier mehrere Minuten lang bedeutungsschwer ins Mikrofon schwieg. Was weiter zurück liegt, ist längst in Vergessenheit geraten.

Die Waffengewalt macht auch nicht vor Personen von öffentlichem Interesse halt. Habt ihr mal von einer Sängerin namens Christina Grimmie gehört? Ich kannte weder sie noch ihre Musik. Dass mir ihr Name geläufig ist, liegt daran, dass ihr Tod durch ein paar Schlagzeilen ging. Bei einer Autogrammstunde ging ein besessener Fan auf sie zu und schoss sie nieder. Sie war 22 Jahre alt.

Der Versuch, diese junge Frau vor dem Vergessen zu bewahren, ist zum Scheitern verurteilt. Ihr Tod liegt schon ein paar Jahre zurück, und im übrigen sind die Menschen in Sachen Gewalt mittlerweile völlig abgestumpft. In regelmäßigen Abständen wird in den USA ein Schwarzer bei einer Verkehrskontrolle aus seinem Wagen gezerrt, getasert und schließlich von Polizisten zu Tode geknüppelt. Der Zwischenfall wird ausgeschlachtet, die Verantwortlichen werden vorgeführt, und in der Folge passiert… gar nichts. Man hat sich daran gewöhnt, nimmt es hin.

Zurück zum Thema Waffenbesitz. Wenn es um die Beurteilung von Amokläufen geht, wird die Sache manchmal so dargestellt, dass es sich um Einzelfälle handelt, und dass die Täter “geistig verwirrt” seien. Diese Charakterisierung hilft den Opfern und deren Angehörigen nicht wirklich, gibt jedoch den Anwälten der Täter eine Daseinsberechtigung. Im Gegenzug wird dann gelegentlich die Frage aufgeworfen, wie es dazu kommen konnte, dass die betreffenden Personen überhaupt in den Besitz von tödlichen Waffen gelangt sind, und eine genauere psychologische Prüfung beim Kauf von Feuerwaffen gefordert. Ein netter Gedanke, aber viel zu kurzsichtig, wie ich finde.

Im vorigen Beitrag hatte ich schon mal über das Schönreden von Problemen gesprochen, deswegen hier meine Meinung kurz auf den Punkt gebracht. Die große Illusion im Zusammenhang mit Waffen besteht in der Annahme, man könne ihre Ausbreitung reglementieren, d.h. man glaubt kontrollieren zu können, wer sie gegen wen einsetzt. Insbesondere der Zweite Verfassungszusatz wird immer wieder mit noblen Absichten (Freiheit und Schutz der Bürger, blabla) verteidigt. Aber das ist Unsinn. Menschen benutzen Waffen, um andere Menschen zu töten. So einfach ist das.

Noch ein Nachsatz: Der obere Teil des heutigen Beitrags bezieht sich größtenteils auf die USA. Aber das Ganze ist auch hierzulande ein ernstes Thema. Bei uns haben derartige Vorfälle ebenfalls deutlich zugenommen. Wenn uns früher jemand blöd kam, sind wir in ein soziales Netzwerk gegangen und haben auf “Unfriend” bzw. “Unfollow” geklickt. Danach haben wir uns zufrieden zurückgelehnt mit dem Gefühl, es demjenigen so richtig gezeigt zu haben. Diese Zeiten sind leider vorbei.

Auch hier werden Unstimmigkeiten immer öfter auf gewaltsame Weise gelöst. Menschen schubsen andere Menschen vor einfahrende U-Bahnen oder gehen mit Messern auf sie los. (Erst letzte Woche hat ein Mann zwei junge Leute in einem Zug erstochen und mehrere weitere verletzt.) Selbst Schusswaffen kommen immer öfter vor. Die Wikipedia listet allein dreizehn “Amokläufe an Bildungseinrichtungen” in Deutschland seit Beginn des Jahrhunderts auf. Nur Verrückte, überall um uns herum.