Monday, September 18, 2023

Das Zeitalter der Heuchelei (Teil 2)

Beim letzten Mal hatte ich über die Neigung der Menschen gesprochen, bei zentralen gesellschaftlichen Themen nach außen hin den populären Standpunkt einzunehmen, um in einem guten Licht dazustehen. Unter anderem hatte ich den diesjährigen Eurovision Song Contest und den “Überraschungssieg” der Ukraine im Vorjahr hervorgehoben. Wenn man mal so darüber nachdenkt, ist eigentlich der gesamte Ukraine-Krieg ein einziges großes Musterbeispiel für die besagte Tendenz.

Seit Beginn der russischen Invasion ist die Ukraine-Krise in den Medien allgegenwärtig. Eine Zeitlang war das ja auch nachvollziehbar. Zum einen weil der Krieg dazu geführt hat, dass die Cornflakes bei uns teurer geworden sind, und zum anderen weil etwa zeitgleich die Zahl der afrikanischen Flüchtlinge zurückgegangen ist, die bereit waren, besonders fotogen im Mittelmeer zu ertrinken.

Aber genau da haben wir den Salat. Inzwischen ist das alles nicht mehr News-Material. Es passiert nichts Neues, sondern es wiederholt sich nur noch. Insofern hören sich die Menschen zwar die Nachrichten über den Krieg geduldig an, aber am Ende interessieren sie sich doch mehr für die Ehekrise der Pochers - aus Sicht der Zuschauer hierzulande ein Drama vergleichbaren Ausmaßes, nur ungleich spannender.

Die Ukraine galt bis 2021 als das korrupteste Land Europas. Inzwischen mögen wir die Ukraine - nicht weil das Land bzw. sein Staatsapparat plötzlich so toll geworden ist, sondern weil es zwischen uns und einem viel größeren Übel steht. Dabei ist die Einordnung “Ukraine = gut, Russland = böse” ohnehin nur theoretischer Natur. Ich bin überzeugt, wenn sich irgendwo in unserem Umfeld - sagen wir, im Bus - zwei Leute in einer osteuropäischen Sprache unterhalten, können die meisten von uns (mich eingeschlossen) nicht unterscheiden, ob es sich um Russen oder Ukrainer handelt.

Und so bekunden die Menschen ihre Verbundenheit mit der ukrainischen Bevölkerung eher abstrakt, spenden ab und zu etwas (meistens kleinere Geldbeträge - die Reserve-Matratzen auf dem Dachboden sind ja schon 2015 bei der syrischen “Wir schaffen das”-Flüchtlingswelle weggegangen) und reden sich dann ein, der öffentlich verkündeten Solidarität Genüge getan zu haben. Wenn es hoch kommt, wird im Hintergrund mal kurz eine blau-gelbe Flagge gezeigt, dann wissen alle, wie der Hase läuft.

Das mit den Flaggen hat es übrigens in der Vergangenheit bereits gegeben. Nach den Charlie-Hebdo-Anschlägen in Paris haben viele Leute ihren Facebook-Avatar mit den dicken blau-weiß-roten Streifen hinterlegt. Es waren so viele, dass man rein statistisch davon ausgehen konnte, dass einige von ihnen noch nie in Frankreich waren und kaum wussten, worum es geht. Die ursprünglich als Zeichen der Solidarität gedachte Geste wurde zu einem Trend und damit effektiv entstellt.

Zurück zur Ukraine. Natürlich ist jede noch so kleine Gabe ein Schritt in die richtige Richtung. Nur eben ein zu kleiner Schritt. Um den Russen wirklich militärisch Einhalt zu gebieten, braucht die Ukraine Waffen. Viele Waffen. (Stellt euch den Satz am besten mit der Stimme von Keanu Reeves gesprochen vor.) Das ist jedoch ein heikler Punkt. Leider besteht immer die Gefahr, dass wir in den Konflikt richtig tief hineingezogen werden, wenn die Russen uns plötzlich als echte Kriegspartei ansehen.

Also halten wir uns beherzt zurück. Abgesehen davon, dass wir selbst kein zuverlässiges Schießzeugs haben, besteht die allgemeine Strategie darin, gerade so viele Waffen zu liefern, dass die Ukrainer nicht komplett weglaufen, sondern sich für den Frieden in Westeuropa verheizen lassen. Besonders deutlich wird das immer dann, wenn über den EU- oder NATO-Beitritt der Ukraine gesprochen wird. Da werden sie hingehalten, denn in der guten deutschen Tradition des politischen Aussitzens (die wir perfektionieren, seit ich denken kann) wird immer die Hoffnung groß geschrieben, dass sich die Dinge von allein ändern.

Und jetzt kommts: Wenn wir mal ehrlich sind, kann uns das alles eigentlich nur recht sein. Niemand hat die Absicht, einen Weltkrieg vom Zaun zu brechen. Es ist immer noch besser, wenn der Krieg im Fernsehen stattfindet, als auf unseren Straßen. Im Osten Europas gibt es Drohnen, Minen, Hyperschallraketen - von Gefechten in unmittelbarer Nähe des größten europäischen Kernkraftwerks ganz zu schweigen. Das alles brauchen wir hier nicht. Lieber die Zustände aus der Ferne beklagen und dann wieder ins Freibad gehen.

Kurz gesagt, in Wirklichkeit sind wir alle Heuchler, die meisten von uns aus Überzeugung. Wir prangern gern Missstände an und wettern gegen alles, was uns gegen den Strich geht, von den Arbeitsbedingungen bei Amazon bis hin zur Frauenquote in Firmenvorständen. Aber sobald es darum geht, etwas zu ändern, muss darauf geachtet werden, dass wir nicht plötzlich Opfer bringen müssen, denn dann hört der Spaß auf.

Sehr deutlich wird das beim Klimaschutz. Von vornherein ist Klima- und Umweltschutz eine tolle Sache, und ich kenne keinen Menschen, der grundsätzlich dagegen ist. Die Hingabe zu dem Thema ist zunächst recht groß (dabei meine ich wohlgemerkt nicht diejenigen Mitbürger, die zu einer Kundgebung mit ihrem SUV oder, Gott bewahre, mit einer Ryanair-Maschine anreisen). Allerdings dürfen Maßnahmen zum Wohle der Umwelt nicht zu Einschränkungen in unserem Leben führen. Die Menschen wollen zwar Klimaschutz, aber sie wollen auch Auto fahren, in Urlaub fliegen oder eine Kreuzfahrt machen.

Denken wir nur mal an Lebensmittel. Wir konsumieren gern Kaffee, Schokolade oder Südfrüchte - alles Luxusartikel, für deren Genuss wir auf Beiträge aus fernen Ländern angewiesen sind, und die deshalb nicht ansatzweise so teuer sind, wie sie es sein müssten. Selbst bei so etwas Elementarem wie Fleisch waren wir in der Vergangenheit gut weggekommen und haben es als selbstverständlich hingenommen. Auch dort ist uns das eigene Wohl letztendlich wichtiger als alle noblen Ziele. Denn wer möchte schon für ein Stück Braten anstelle der typischen 2,90 Euro lieber 14,50 Euro bezahlen (was einem fairen Preis ein Stück näher käme)?

Was das angeht, sind wir jahrzehntelang verwöhnt worden und glauben jetzt, man könnte den Klimaschutz umsonst erwerben. Nur leider ist das in der Realität nicht ganz so einfach. Oder doch? Vielleicht sollten wir uns, um hier den Kreis zu schließen, die Deutsche Bahn als Vorbild nehmen. Sie hat es quasi über Nacht geschafft, klimaneutral zu werden, und musste dafür nur einen grünen Streifen auf ihre ICEs pinseln.