Thursday, September 21, 2023
Das heikle Thema
Ich erinnere mich, vor ein paar Wochen von einem skandalösen Gerichtsurteil aus Italien gelesen zu haben. Dort wurde eine Schülerin von einem Hausmeister begrapscht; sie zeigte ihn an, doch die Richter - bestimmt alle männlich, auch wenn es nirgendwo explizit erwähnt wurde - sprachen den Mann nicht schuldig, weil die Sache nur 10 Sekunden gedauert hatte. Mit anderen Worten, Vergewaltigung ist dort in Ordnung, wenn es nur schnell genug geht. Was für ein wundervolles Land.
2017 ging ein Erdrutsch erst durch Hollywood und anschließend durch die Welt, als bekannt wurde, dass sich der Filmproduzent Harvey Weinstein jahrelang wie ein Fuchs im Hühnerstall durch die weibliche Hälfte der Filmindustrie herumgeschlagen hat. Wie viele Frauen er vergewaltigt und traumatisiert hat, werden wir wohl nie wissen. Immerhin sitzt er im Knast, und schon jetzt übersteigt das Strafmaß seine restliche Lebenserwartung.
Erst kürzlich ging ein ähnliches Beben durch die Sportwelt, als der Präsident des Spanischen Fußballverbandes seiner Frauenmannschaft zum Sieg bei der diesjährigen WM gratulierte und dabei vor laufenden Kameras eine Spielerin küsste, potentiell ohne ihr Einverständnis. Die Spielerin (Jennifer Hermoso) reagierte auf die Aktion des Präsidenten (Luis Rubiales) zunächst zurückhaltend. Erst nachdem der Zwischenfall von den Medien vorgekocht wurde, leitete sie rechtliche Schritte ein. Die MeToo-Bewegung hatte den Fußball erreicht.
Seitdem scheint die Situation dort quasi täglich zu eskalieren. Nationalspielerinnen fordern Rücktritte von Funktionären und werden umgekehrt aus dem Kader gestrichen oder anderweitig unter Druck gesetzt. Die Mutter von Luis Rubiales war sogar vorübergehend in den Hungerstreik getreten, um gegen die öffentliche Stimmungsmache gegen ihren Sohn zu protestieren. (Keine Ahnung was daraus geworden ist; da die Medien nicht ihr Ableben verkündet haben, wird sie inzwischen wohl wieder Nahrung zu sich nehmen.)
Ich habe längst den Überblick verloren, wer genau was von wem fordert oder erwartet. Es ist auch kaum noch wichtig. Zu Beginn lief die Sache zivilisiert ab, insbesondere da erst geklärt werden musste, was genau passiert ist (Rubiales gibt an, der Kuss wäre einvernehmlich gewesen). Es ist ein glücklicher Umstand, dass wir im Sport den Videobeweis haben, wenngleich er im Normalfall für Belanglosigkeiten wie Abseitsstellungen verwendet wird. Kurioserweise verweisen beide Seiten auf die Fernsehaufzeichnungen, weil sie glauben, dort wäre genau das zu sehen, was sie behaupten.
Die Sache mit dem Videobeweis ist mittlerweile mehr oder weniger vergessen, und alle Beteiligten schlagen nur noch wild um sich. An dieser Stelle muss ich an die öffentliche Schlammschlacht zwischen Johnny Depp und Amber Heard denken - nicht ganz dieselbe Situation, aber letztendlich warfen auch hier beide Parteien einander Gewalt und sexuelle Übergriffe vor. Ich habe mir den Prozess teilweise online angeschaut. Es war großes Kino, mithin sehenswerter als alles, was die beiden Hauptdarsteller in den letzten Jahren auf die Leinwand geworfen haben. So richtig geklärt wurde die Sache nicht, aber Johnny Depp hatte die besseren Anwälte, so viel steht fest.
Weitere Namen, die mir in dem Kontext einfallen, sind Bill Cosby oder Kevin Spacey. Es gibt genug bekannte Persönlichkeiten, denen sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. Aber, und das ist der springende Punkt, es sind alles Berühmtheiten (die Opfer teilweise ebenfalls). Insofern gibt kein wirkliches Umdenken. Die Vorfälle sind wohl nur dann relevant, wenn es um “wichtige” Personen geht. Bei sexueller Belästigung von normalen Menschen im Alltag kräht kein Hahn danach, und von der katholischen Kirche wollen wir lieber gar nicht erst anfangen.
Insofern kann Jennifer Hermoso froh sein, dass ihr überhaupt die Aufmerksamkeit der Medien zuteil wird. Sie ist prominent genug und hat zudem das Glück, nicht in Italien zu kicken. Denn ich habe mir die Kuss-Szene angesehen und die Zeit gestoppt: es waren unter 10 Sekunden.