Saturday, November 4, 2023

Ist das Kunst?

Bei meinen Streifzügen durch die Hamburger Innenstadt ist mir vor kurzem ein großer Glasklotz aufgefallen, den ich bisher nicht bewusst wahrgenommen hatte. (Ehrlich gesagt könnte ich aus dem Stegreif gar nicht sagen, was sich vorher an der gleichen Stelle befunden hat.) An der Außenwand des Gebäudes prangte das Wort “JUPITER”; es hatte da wohl eine Neueröffnung gegeben, aber die Details waren an mir vorbeigegangen. Angesichts seiner Lage - am vorderen Ende der Mönckebergstraße, das ist die Haupteinkaufsmeile in Hamburg - drängte sich mir der Verdacht auf, dass es sich um ein weiteres Kaufhaus handeln würde. Aber jetzt kommts: Ich war vorhin drin und muss gestehen, dass ich es immer noch nicht weiß.

Shopping in einer Großstadt ist eine groteske Angelegenheit, das hatte ich ja schon einmal angedeutet. Bevor ich mich dem frisch entdeckten Jupiter widmete, führten mich wie so oft meine Schritte zuerst, gewissermaßen thematisch passend, in den Saturn auf der anderen Straßenseite. Dabei sollte angemerkt werden, dass Saturn zwischen Spielzeug und DVDs inzwischen zusätzlich Musikinstrumente verkauft, und zwar alles auf engstem Raum. Die Einkaufserfahrung als unangenehm zu beschreiben, wäre eine Untertreibung. Aus den Lautsprechern klang Rockmusik, dazu kamen mehrere Leute, die unabhängig voneinander auf Klavieren (die Rücken an Rücken aufgestellt waren) gleichzeitig eigene Musik zu machen versuchten. Einer davon spielte eine moderne Variante von Beethovens “Für Elise”, ein anderer probierte sich an etwas, was ich für Bach oder Chopin hielt. Ein dritter schien gar nicht an konkreten Melodien interessiert zu sein, sondern nur die Akustik prüfen zu wollen. Schlagzeug gab es übrigens auch.

Und dann - hatte ich den Spielzeugbereich schon erwähnt? - waren da noch jede Menge Kinder. Eines von ihnen haute ebenfalls in die Tasten. Es war ersichtlich nicht musikalisch, und es tat dies auch nicht (wie die meisten Wesen in seinem Alter), weil es sich an der Entstehung von Geräuschen erfreute, sondern schlichtweg aus Langeweile, denn seine Eltern standen irgendwo in der Landschaft und schenkten ihrem Nachwuchs nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Andere Kinder rannten kreischend durch die Gegend. Eine Mutter stellte ihren widerspenstigen Sprössling für ein Fotoshooting auf die Harry-Potter-Fläche, als wolle sie ihn zu einem Dobby-Ähnlichkeitswettbewerb anmelden. Es war wie im Tollhaus.

Als ich endlich draußen war (und ganz unter uns, das Verhältnis von Kunden zu geöffneten Kassen lässt vermuten, dass ein früherer Bahnchef den Laden übernommen hat), suchte ich den Jupiter auf. Unmittelbar nachdem ich das Gebäude betreten hatte, kam mir der Gedanke, dass das doch kein Kaufhaus sein könne, jedenfalls kein gewöhnliches. Einer der Gänge war von pinkfarbenen Kissen gesäumt (auf denen man sich anscheinend ausruhen durfte), ein anderer von Bananenkisten. Das gesamte Innendesign hätte dem Geiste von Salvador Dali entsprungen sein können, nur eine brennende Giraffe konnte ich bei meinem Erkundungsstreifzug nirgends finden.

In der dritten Etage wurde ich mit so etwas wie einer Kunstausstellung konfrontiert. Auch hier faszinierte mich die Innenausstattung gewaltig - fast noch mehr als die eigentliche Kunst, möchte ich sagen. Jedenfalls trieb ich mich ein paar Minuten herum und heuchelte einige Male Interesse, bis ich schließlich vor einem Pfeiler stehen blieb. An einer Seite desselben waren mehrere Werke einer Künstlerin angebracht, deren Namen ich inzwischen wieder vergessen habe. Eins der Bilder fesselte mich besonders. Es war quadratisch mit gefühlt einem halben Meter Seitenlänge und enthielt genau vier dicke farbige Streifen. Das Schmuckstück hieß “Orange im Wald” (warum auch immer) und kostete, haltet euch fest, 520 Euro. Nur Verrückte!

Ich blickte mich irritiert um, weil ich nicht glauben konnte, dass es auf der Welt jemanden geben könnte, der für diese Kuriosität einen dreistelligen Geldbetrag hinzulegen bereit wäre, und identifizierte um mich herum verteilt mehrere weitere Arbeiten im gleichen Stil. Eins davon hatte nur drei bunte Streifen und kostete sogar 820 Euro. Es stellte sich heraus, dass es von derselben Schöpferin stammte. Mir kam der Gedanke, dass sie noch ein paar Streifen einsparen und den Preis dadurch noch etwas nach oben korrigieren könnte - vielleicht auf 1500 bis 2000 Euro für ein fast leeres Stück Karton. Ich vermute, ihr war der Gedanke gleichermaßen schon gekommen, und sie hatte sich nur deshalb dagegen entschieden, weil es dann zu leicht wäre, Fälschungen von ihren Kreationen anzufertigen.

Das ganze Gebäude widmete sich offenbar allen möglichen Formen der Kunst, und der Begriff ist wirklich großzügig auszulegen. Hier und da wurden Gegenstände verkauft, die man unter anderen Umständen als Kleidung bezeichnen könnte. Es gab diverse Workshops, in denen sich Teile der Kundschaft selbst betätigen durften; was sie dabei konkret tun konnten, entzog sich meiner Kenntnis, aber vermutlich wussten sie es selbst auch bloß nicht. Auf einer “Projektfläche” - in Ermangelung eines besseren Begriffs - spielten ein paar Familien Memory, nur dass jedes einzelne der Kärtchen mit den Bildmotiven die Größe der “Orange im Wald” hatte. Was darauf abgebildet war, konnte ich nicht erkennen, aber ich wäre nicht überrascht, wenn jedes von ihnen lediglich ein paar farbige Streifen enthielte.

Nach dem Jupiter stattete ich Karstadt einen Besuch ab. Leider hatten sie die Jacke, die ich mir leisten wollte, nicht in der richtigen Größe, so dass ich keinen echten Einkaufserfolg vorweisen konnte. Letztendlich war das aber nebensächlich, denn die zuvor erwähnte Ausstellung beschäftigte mich ohnehin stärker als modische Fragen. Das Wesen moderner Kunst enzieht sich mehr und mehr meinem Verständnis. Mittlerweile ist kaum noch etwas davon übrig (d.h. wahlweise von der Kunst oder dem Verständnis). Wann immer man dieser Tage auf irgendwelche bunten Tupfer vor einem hellen Hintergrund stößt, besteht die Chance, dass man das Meisterwerk eines bis dahin nicht genug gewürdigten Künstlers entdeckt hat. Genauso gut kann es aber sein, dass ein Betrunkener auf ein paar Kacheln gekotzt hat. Man weiß es einfach nicht.