Sunday, November 19, 2023

Gute Vorsätze

Neulich habe ich in den Nachrichten gehört, dass die Bahn nicht mehr damit rechnet, ihre selbst gesteckten Pünktlichkeitsziele für das laufende Jahr zu erreichen. Ehrlich gesagt überrascht mich das nicht. Vielmehr finde ich es bemerkenswert, dass die Bahn immer noch so unverfroren ist, in der Hinsicht überhaupt Ziele zu beziffern. Und dabei war der aktuelle Streik, als die Erklärung abgegeben wurde, noch gar nicht in die Rechnung einbezogen worden.

Die Bahn schlägt sich, wenn man ihren Darstellungen Glauben schenken möchte, mit allerlei unglücklichen, unkontrollierbaren Umständen herum. Häufig geht es darum, dass Biber oder Dachse einen Streckenabschnitt unterhöhlt haben. Das Argument mit “höherer Gewalt”, wenn man es so nennen will, ist aber in meinen Augen Käse. Gefühlt alle zwei Tage liest man, dass auch ohne äußeres Zutun ein ICE mit einem Regionalzug kollidiert ist. Vielleicht ist es ja besser, wenn die Lokführer streiken.

Das vorgesehene Ziel wird, wenn ich das richtig verstanden habe, nicht nur knapp verfehlt, sondern recht deutlich. Angestrebt wurde wohl eine Pünktlichkeitsquote von 70%, und nachdem über das gesamte erste Dreivierteljahr hinweg schon mehrere Prozentpunkte fehlten, sind die Zahlen für den Oktober sogar unter 60% gefallen. Die genauen Werte sind relativ bedeutungslos, da die Bahn ihre Statistiken ohnehin schönrechnet, allerdings ist die Lücke in jedem Fall groß.

Kurz gesagt, das ausgegebene Ziel lag von vornherein in einer unrealistischen Größenordnung. Was das Verkünden von unseriösen Zielen angeht, sind die Menschen ganz groß. (Ich nehme mich selbst dabei natürlich nicht aus. Zum Beispiel habe ich mir vorgenommen, im nächsten Jahr 20 Kilo abzunehmen, ein Ehrenamt in einer hiesigen sozialen Einrichtung auszuüben und ganz nebenbei zwei neue Sprachen zu lernen. Es sollte klar sein, dass mich absolut nichts davon abhalten kann.)

Wie so oft in meinen Artikeln kommt jetzt der Punkt, an dem ich darauf hinweise, dass Menschen in öffentlichen Funktionen besonders anfällig für dieses Verhaltensmuster sind. Die Spitze des Eisbergs sind sogenannte Wahlversprechen (”Wahlversprecher” wäre ein besserer Begriff). Die Politiker von heute sind sich einig, dass sie nicht auf Basis dessen beurteilt werden möchten, was sie mal irgendwann im Wahlkampf gesagt haben, und damit ist das Thema aus deren Sicht schnell wieder vom Tisch.

Gehen wir mal einen Schritt weiter, und zwar zu Bauprojekten. Wenn ein Flughafen oder ein unterirdischer Bahnhof errichten werden soll, gibt es zu Beginn einen Bauplan, doch man muss kein Hellseher sein, um schon im Vorfeld zu erkennen, dass die Zahlen zur Bauzeit und zu den Baukosten bis zur Fertigstellung unmöglich eingehalten werden können. Ganz egal, ob sich die Verantwortlichen dessen bewusst sind oder nicht - es wirft kein gutes Licht auf sie.

Am deutlichsten wird das obige Phänomen jedoch immer dann, wenn ein bedeutendes Sportevent ansteht. Da überschlagen sich Reporter, Funktionäre und selbsternannte Experten im Vorfeld regelmäßig bei der Ankündigung sensationeller Leistungen und Ergebnisse zugunsten der deutschen Athleten bzw. Teams. Manchmal haben sie recht, aber viel häufiger eben nicht, und dann werden große Augen gemacht, wie es nur dazu kommen konnte.

Ich weiß nicht, welche Rolle Erwartungsdruck bei den Resultaten spielt. Die sportliche Realität sieht jedenfalls so aus, dass wir in sehr vielen Sportarten nicht das Leistungslevel besitzen, das wir gern hätten. Insbesondere genügt es offenkundig nicht, in der Vergangenheit einmal Weltspitze gewesen zu sein, um in der Gegenwart mit der Weltspitze mithalten zu können.

Im Fußball, durch den sich der deutsche Sport jahrzehntelang quasi definiert hat, ist das seit einer Weile nicht mehr zu übersehen. Während die deutsche Nationalmannschaft früher davon ausgehen konnte, selbst im Energiesparmodus bei WMs und EMs um den Titel mitzuspielen, können wir jetzt froh sein, wenn sie in Bestform die Vorrunde übersteht. Bei den Frauen, deren sportlicher Abstieg ein paar Jahre später begonnen hat, sieht es mittlerweile genauso aus.

Es gibt kein langfristiges Erfolgskonzept im DFB, nur hin und wieder Hau-Ruck-Maßnahmen, um kurzfristige Erfolge - wie beispielsweise einen Sieg gegen den Oman in einem Testspiel vor ziemlich genau einem Jahr, jawoll! - vorweisen zu können. (Das Wortspiel “Flick-Werk” kann ich leider nicht für mich beanspruchen, weil es schon ein anderer vor mir gefunden hat.) Es ist traurig, wenn man mal ehrlich und offen darüber nachdenkt.

In anderen Gefilden, in denen Deutschland früher als große Sportnation galt, ist es ebenfalls bergab gegangen. Da wären zum Beispiel Schwimmen, Rudern oder Reitsport (gut, bei Letzterem kann man den Pferden die Schuld geben). Bei der Leichtathletik-WM hat Deutschland heuer keine einzige Medaille geholt - das erste Mal seit der Teilung des Roten Meeres, glaube ich - und liegt damit im Medaillenspiegel gleichauf mit Tuvalu und Belize, jedoch hinter dem Katar und Barbados.

Natürlich gibt es auch weiterhin gelegentlich einzelne Erfolge zu vermelden. Leider gehen diese Fälle genauso schnell wieder unter, wie sie passiert sind. Als die deutschen Basketballer WM-Gold geholt haben (dummerweise hat sich keiner getraut, hier den Sieg als Ziel auszugeben), hat die Nation gefeiert. Sobald die Gold-Jungs dann vom Flughafen herunter- und aus dem Kamerabereich herausgetrabt sind, war die Sache effektiv schon wieder vergessen.

Wie bei den meisten vergleichbaren Themen, über die ich hier schreibe, sind inzwischen zwei Dinge passiert. Erstens, man hat sich damit abgefunden (oder zumindest daran gewöhnt). Zweitens, wenn die Sache doch mal angesprochen wird, sind die Ausreden erstklassig. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Deutschland ein beträchtliches Stück nach oben rutscht, wenn Schönreden zu einer olympischen Disziplin erklärt wird.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Zitat, als Deutschland bei Olympia 2012 schon mal die Ziele verfehlt hat. Da hat sich ein Funktionär wichtigtuerisch vor der Kamera positioniert und gesagt: “Das waren keine Vorgaben, sondern Vereinbarungen”. Mit anderen Worten, Deutschland hat den Gewinn von soundso vielen Medaillen nicht etwa angestrebt, sondern vereinbart. (Mit wem?) Vielleicht habe ich da etwas falsch verstanden; mein Eindruck war, das Problem sollte durch das Ersetzen von einem Begriff durch einen anderen gelöst werden.

Ich bin gespannt, wie unsere “Vereinbarungen” für die Fußball-EM 2024 (vor heimischer Kulisse) oder für die Leichtathletik-WM 2025 lauten. Dass es beachtliche Zielstellungen geben wird, steht wohl außer Frage. Ob es sich um plausible Vorgaben handelt, steht auf einem anderen Blatt; persönlich glaube ich eher nicht daran, aber wer weiß. Alternativ könnte man schon jetzt mal anfangen, sich der Realität zu stellen. Das Leben ist kein Wunschkonzert.