Friday, February 17, 2023

Kleine Zahlen, große Zahlen

Mehr als eine Woche nach dem schweren Erdbeben in Syrien und der Türkei wird immer noch täglich, ja stündlich, von den Entwicklungen vor Ort berichtet. “Die Zahl der Opfer steigt weiter” lese ich in den Schlagzeilen. Natürlich tut sie das. Glauben die Leute etwa, dass sie auf magische Weise wieder fällt? Die geborgenen Toten werden nicht plötzlich wieder aufstehen und wegspazieren. Und so bitter es klingt, es ist davon auszugehen, dass die meisten vermissten Menschen dort - abgesehen von vielleicht einer Handvoll wundersamer Rettungen - ebenfalls nicht mehr lebend gefunden werden.

Die Berichterstatter übertreffen einander bei der Quantifizierung des Schadens, und sie tun das augenscheinlich nicht aus Anteilnahme an der hiesigen Bevölkerung, sondern weil jeder der erste sein möchte, der die nächstgrößere Zahl an Todesopfern verkündet (mittlerweile stehen wir bei über 40000). So funktioniert die heutige Medienwelt. Es geht nur darum, möglichst sensationelle Meldungen herauszubringen, d.h. möglichst große Zahlen.

Dabei haben wir längst den Punkt erreicht, wo die genaue Zahl für unsere Wahrnehmung nicht mehr relevant ist. Versteht mich nicht falsch; grundsätzlich ist jeder weitere Tote eine weitere Tragödie. Aber keiner wird den Champagner knallen lassen, nur weil die Naturkatastrophe hundert Opfer weniger gefordert hat als befürchtet. Die Größenordnung steht fest und wird sich auch in den kommenden Tagen und Wochen nicht ändern.

Das mit den Zahlen ist so eine Sache. Menschen reagieren auf zahlenbasierte Informationen nicht immer rational. Zahlen entfalten nur dann ihre Wirkung, wenn wir uns unter ihnen etwas vorstellen können, und bei sehr großen Werten ist das nicht zwangsläufig der Fall. Wenn sie nicht greifbar sind, haben sie nur eine begrenzte Bedeutung für uns. Wir können 3 und 4 klar unterscheiden (wisst ihr noch, wie damals in der Grundschule das Rechnen begann?), aber 30000 und 40000 viel schlechter, denn beides entspricht im Grunde genommen einfach einem sehr großen Haufen.

Bei Unglücken, die sich weit entfernt ereignen, ist das erst recht so. Zu Weihnachten 2004 schwappte es mal kurz im Indischen Ozean, und eine Viertelmillion Menschen starb. Es handelt sich um die Naturkatastrophe mit den meisten Opfern, seit ich denken kann. Aber obwohl die Zahlen damals nochmal um eine Vielfaches höher lagen als letzte Woche, werden die Ereignisse nicht wirklich anders verarbeitet. Die Größenordnungen sind einfach unvorstellbar, im wahrsten Sinne des Wortes, deswegen macht es keinen Unterschied.

Um die Zahlen hierzulande halbwegs einzuordnen, müsste man sich vorstellen, es gäbe einen Tsunami in der Nordsee, durch den Bremerhaven, Wilhelmshaven und Cuxhaven allesamt komplett ausgelöscht würden. Das entspräche ungefähr der gleichen Anzahl an Opfern, ist jedoch für unsereinen - außer eventuell für diejenigen, welche Frank Schätzings “Der Schwarm” gelesen haben - ein absolut unrealistisches Szenario. Als praktisches Anschauungsbeispiel taugt es also nicht. In Deutschland gibt es keine vergleichbaren Naturkatastrophen.

Deshalb wird hier weiterhin eher in der Kategorie Deutschland-typischer Tragödien gerechnet. 1998 starben bei einem ICE-Unglück um die 100 Personen, und bei einem Flugzeugabsturz 2015 waren es sogar 150, um nur zwei Beispiele zu nennen. Solche Ereignisse treffen uns deutlich stärker als eine fünf- bzw. sechsstellige Anzahl an Todesopfern beim Spiel der Naturgewalten in fernen Ländern, zumal die Begleitumstände auch lebensnäher erscheinen als eine unvermittelt auftauchende 30 Meter hohe Flutwelle im Taunus oder Harz. Im globalen Maßstab sind derartige Unglücke hingegen nicht gerade aufsehenerregend.

Verlassen wir das düstere Feld der Naturkatastrophen (ohnehin kein Thema, über das man Witze machen sollte) und reden wir über Geld. Bei finanziellen Themen gilt grundsätzlich das gleiche, nämlich dass Zahlen ab irgendeinem, nicht näher definierbaren Schwellenwert ihre Bedeutung verlieren und nur noch grotesk wirken. Erinnert ihr euch beispielsweise an die Enthüllungen vor ein paar Jahren, wonach das Verteidigungsministerium Beraterhonorare in einer Höhe von über 150 Millionen Euro verjuxt hat? Eine geradezu lächerliche Summe - mehr Geld als die meisten von uns über ihr ganzes Leben akkumuliert ihr Eigen nennen.

Wenn man den Betrag allerdings erstmal verdaut hat, reift die Erkenntnis, dass das im gesellschaftlichen Kontext der heutigen Zeit eigentlich keine so gigantische Menge Geld mehr ist. (Zitat des von mir sehr geschätzten politischen Kabarettisten Urban Priol: “Dafür kriegt man gerade mal noch einen Kastor-Transport.”) Jedes harmlose Bauprojekt wird am Ende teurer sein, selbst wenn es nur um 10 Kilometer Autobahn fernab von Gemeinden geht und die Finanzplanung nicht Bischof Tebartz-van Elst überlassen wird. Und da reden wir noch gar nicht von Flughäfen oder unterirdischen Bahnhöfen.

Lasst uns die Schlagzahl ein wenig erhöhen. Im Sandkasten der Großunternehmen spielt man nicht mehr mit Millionen, sondern mit Milliarden, und das führt uns zu Elon Musk. Dieser schräge Vogel hat im letzten Jahr Twitter für einen elfstelligen Betrag gekauft und durch gleichermaßen schräge Entscheidungen fast an den Rand des Ruins geführt. Der Wertverlust des Konzerns lag in einer Größenordnung, für die man ein kleines afrikanisches Land hätte kaufen und sanieren können.

Die jüngste Vergangenheit war nicht gerade gnädig zu Elon Musk. Er hat den Rekord für den größten finanziellen Verlust einer einzelnen Person gebrochen und ist nun nicht mal mehr 200 Milliarden Euro schwer. Der arme Mann! Falls er das Bedürfnis verspüren sollte, ein paar hundert Luxusyachten zu kaufen (zuzutrauen wäre es ihm), dann müsste er sich schon echt strecken.

Auch sonst haben Unternehmer mittlerweile einen schweren Stand. Von den Konzernen wird plötzlich erwartet, dass sie sich an alle möglichen Gesetze halten, von Datenschutzfragen bis hin zu Kartellrecht. Autobauer müssen Abgasgrenzwerte einhalten. In einem Akt grenzenloser Verzweiflung hat VW (geschätzter Wert: knapp 80 Milliarden) seine Managergehälter bei 10 Millionen Euro gedeckelt, von den restlichen Vorständen ganz zu schweigen. Es sind schon harte Zeiten. Und wieder gilt natürlich, dass diese Zahlen für Normalbürger ohne jegliche Relevanz sind.

Gehen wir noch ein Stück nach oben. Die Staatsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland liegt aktuell bei etwa 2,5 Billionen Euro (wobei allein der Rundungsfehler größer als der Wert von Adidas ist - mit oder ohne ihr antisemitisches Aushängeschild Kanye West). Präziser kann kaum jemand die Summe angeben, der sich nicht Wirtschaftsexperte schimpft. Die Zahl ist so groß, dass sie pro Sekunde um das Monatsgehalt eines gut verdienenden Angestellten wächst. Innerhalb einer Stunde, in der ich diesen Artikel getippt habe, kamen über 10 Millionen Euro dazu.

Wenn man die Zahl nur flüchtig liest, wird man sich später vielleicht vage daran erinnern, dass sie vorn eine 2 und danach noch jede Menge weitere Ziffern hat. Man würde also vermutlich zur Kenntnis nehmen, wenn die Staatsverschuldung von einem Moment auf den nächsten mit einer 4 beginnen würde. Aber ob man es auch registrieren würde, wenn jemand hinten drei Nullen anhängt, ist weit weniger klar. Das ist wie gesagt der Tatsache geschuldet, dass der echte Zahlenwert für die Menschen im Alltag völlig ohne praktische Bedeutung ist.

Kurz gesagt, die Zahlen sind uninteressant, solange wir damit nicht irgendetwas verbinden können. Wenn also das nächste Mal jemand in den Nachrichten eine riesige Zahl nennt und dabei eine gewichtige Miene aufsetzt, kann man demjenigen getrost einen Vogel zeigen. Eine Meldung, dass man als Privatperson im nächsten Jahr 200 Euro weniger bekommen soll, ist viel einprägsamer als die, dass dem Staat 200 Milliarden Euro abhanden gekommen sind. Das eine ist greifbar, das andere nicht.