Sunday, March 5, 2023

Das Leben in Metropolen

Es ist schon wieder so viel passiert, dass ich gar nicht weiß, worüber ich konkret schreiben möchte. Erst vor kurzem hat Jens Spahn die CDU zur einzig wahren Klimaschutzpartei erklärt. Dafür allein müsste der Mann eigentlich eingewiesen werden. Das ist ungefähr so, als wenn man in einem Waldstück ein offenes Feuer legt und sich dann vor laufenden Kameras als ausgezeichneten Feuerwehrmann bezeichnet, nur weil der Wald zum Zeitpunkt der Pressekonferenz noch nicht komplett abgebrannt ist.

Auch sonst ist aktuell viel los in der Welt. Flughäfen legen sich im Alleingang (oder mit geringfügiger Hilfe der Deutschen Bahn) still, so dass der gleichzeitig stattfindende Streik kaum mehr ins Gewicht fällt. Klimaaktivisten sind in der Folge nicht ausgelastet und kleben sich an Tischen in Amtsgerichten fest. Ballettdirektoren empfehlen Fäkalien von Hunden als Make-Up. Donald Trump stellt sich selbst - mal wieder - als Heiland dar, diesmal indem er Getränke ausliefert; vermutlich möchte er die Parole “Make America wässrig again” verkaufen. Und russische Abgeordnete entdecken ihre Liebe zu Pasta.

In vergangenen Artikeln hatte ich bereits gesagt, was ich von den meisten Politikern und anderen Gestalten des öffentlichen Lebens halte (nämlich nichts), und dass derartige Aktionen durch die Omnipräsenz sozialer Medien inzwischen nicht mehr als verwunderlich anzusehen sind. Allerdings könnte man glauben, dass solche Sachen typischerweise irgendwo in weiter Ferne passieren. Deshalb habe ich mich spontan auf mein engeres, reales Umfeld konzentriert und festgestellt, dass ich von den Exzentrizitäten meiner Mitmenschen dort auch bloß nicht verschont werde.

Neulich beim Einkaufen war mir ein junger Mann aufgefallen, der den Strom der Kunden im Supermarkt fast komplett zum Erliegen gebracht hat, indem er sich mitten in einen Gang stellte und für Fotos posierte. Von der Erscheinung und seinem Gepäck her hatte ich den Eindruck, er wäre extra aus Hongkong in die hiesige REWE-Filiale angereist. Er machte Selfies mit irgendwelchen Bio-Lebensmitteln und setzte dabei ein hysterisches Grinsen auf, als wolle er sich für die nächste Joker-Verfilmung casten lassen. Nur Verrückte!

Das war eine sehr spezielle Episode, gesamtheitlich jedoch kein Einzelfall. Gestern bin ich in der U-Bahn einer Frau begegnet, die zu glauben schien, sie könne singen. Vermutlich hielt sie sich für eine zweite Lady Gaga, aber zwischen ihr und dem Original gab es, vorsichtig ausgedrückt, mehr als eine Diskrepanz. Nun ist es so, dass ich aus einer Kleinstadt stamme, in der es - jedenfalls vor dem Hintergrund des 21. Jahrhunderts betrachtet - nicht genug interessante Menschen gibt, dass sich zwei von ihnen auf der Straße begegnen würden. Vielleicht bin ich dadurch für geistige Umnachtungen besonders sensibilisiert?

Mein bisheriges Leben hatte nicht genug Stationen, um damit anzugeben; immerhin habe ich mich in verschiedenen Teilen Deutschlands aufgehalten und kann mit Bestimmtheit sagen, dass es die Verrückten quasi überall gibt. Für einen kurzen Zeitraum hatte es mich nach München verschlagen, und zufällig war ein Oktoberfest in das gleiche Zeitfenster gerutscht. Dabei hatte es sich ergeben, dass ich in unmittelbarer Nähe zur Theresienwiese hausen durfte. Wenn man für sich selbst nicht gerade eine Karriere als Bierleiche in Erwägung zieht, sollte man in den besagten Wochen der “Wiesn” besser fernbleiben.

Genauer gesagt sollte man zur Festzeit gleich den gesamten Stadtteil meiden. Eines Abends hatte ich einen Spaziergang gemacht, wohlgemerkt mit einer ordentlichen Distanz zur Wiesn, so dass ich die vor Ort dröhnende Musik lediglich leise im Hintergrund hörte. Auf meinem Weg ist mir ein betrunkener Festbesucher in Lederhosen aufgefallen, der auf offener Straße urinierte. Und zwar nicht an die Seite eines schicken Autos, wie man es aus Filmen kennt, sondern direkt in den leeren Raum hinein. Ihr habt vielleicht eine Vorstellung, was ich empfunden habe (das Wort “Kulturschock” kommt in den Sinn).

Fairerweise muss man sagen, dass München den Rest des Jahres ganz erträglich ist. Allerdings sind die geschäftigeren Straßen etwas eigentümlich. Früher hätte ich erwartet, an Bäckereien und dergleichen vorbeizukommen. Stattdessen stieß ich (sinngemäß) auf: ein Nagelstudio, die Filiale eines Handyanbieters, ein Sportwettbüro, und dann wieder ein Nagelstudio. Auf der anderen Straßenseite: einen ausgewachsenen Beauty-Salon (für Frauen, die gern mal ein halbes Monatsgehalt in Wimpernverlängerungen investieren), einen Markt für exotische Lebensmittel, das Konsulat der Republik Tunesien, und dahinter gleichermaßen ein Nagelstudio. Es war deprimierend.

Nun, das ist in Großstädten wohl die neue Normalität. Und natürlich nicht ausschließlich in München; in Hamburg, wo ich jetzt lebe, sieht es ähnlich aus. Zwar bin ich zuletzt in eine ruhigere Gegend gezogen, aber meine Wohnung liegt einen Katzensprung von größeren Straßen entfernt, und dort mache ich vergleichbare Erfahrungen. Wenn ich hier eine Hauptstraße abschreite, erlebe ich ungefähr dasselbe wie zuvor in München, nur bei schlechterem Wetter.

Besonders großer Beliebtheit scheinen sich in meiner neuen Wahlheimat Friseursalons zu erfreuen. Das sollte grundsätzlich in Millionenstädten nicht überraschen; eine entsprechende Nachfrage wird ja sicher vorhanden sein. Zum Verständnis der Leser aus dünner besiedelteren Gebieten muss man jedoch erklären, dass bei großstädtischen Friseuren die Haare nicht geschnitten, sondern vielmehr in eine so gewaltige Portion Gel getunkt werden, dass sie erst groteske dreidimensionale Formen annehmen und dann freiwillig nicht mehr weiterwachsen.

Was das Stadtleben angeht, hat Hamburg also ebenfalls seine Defizite. Insofern sollte man sich, wenn man spazieren gehen will, lieber eine der vielen grünen Ecken suchen. Da ist der Kulturschock eher gering, und man trifft auch nicht auf die Scharen von Fußball-Fans, die aus unerfindlichen Gründen glauben, ihr Verein hätte Erstliga-Qualität. Den Verrückten entkommt man nie ganz; das wahrscheinlichste Szenario in einem Hamburger Park besteht darin, dass man erst von einem freilaufenden Hund umgerannt wird und sich dann die Lebensgeschichte des Besitzers anhören muss.

Das Fazit von alldem lautet: Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, die Verrückten wären ein seltener Menschenschlag, der sich nur in weiter Ferne oder in imaginären Gefilden wie YouTube und Instagram herumtreibt. Wir sind von ihnen wirklich und wahrhaftig umgeben, sind ihnen ausgeliefert. In den Metropolen sind das, was man früher als “normale Menschen” bezeichnet hat, heute die Kuriositäten der Welt. Finden wir uns damit ab.